Quantcast
Channel: Rechtslupe Ȇberhangmandat
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2

Überhangmandate, Zusatzmandate und negatives Stimmgewicht bei der Bundestagswahl

$
0
0

Die 2011 erfolgte Neuregelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag ist verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem heute verkündeten Urteil entschieden, dass das mit der Änderung des Bundeswahlgesetzes neu gestaltete Verfahren der Zuteilung der Abgeordnetensitze des Deutschen Bundestages gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien verstößt.

Dieses Verdikt der Verfassungswidrigkeit betrifft zunächst die Zuweisung von Ländersitzkontingenten nach der Wählerzahl (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG), weil sie den Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht. Darüber hinaus sind die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien auch insoweit verletzt, als nach § 6 Abs. 2a BWG Zusatzmandate vergeben werden und soweit § 6 Abs. 5 BWG das ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zulässt, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt.

Die Entwicklung der Sitzverteilung bei Bundestagswahlen[↑]

In der Bundesrepublik Deutschland werden Bundestagswahlen seit jeher auf der Grundlage eines Wahlsystems durchgeführt, das die Verhältniswahl mit einer Personenwahl verbindet. Sämtliche Wahlgesetze sehen einen Verhältnisausgleich vor, nach dem die in den Wahlkreisen mit relativer Mehrheit der Erststimmen gewonnenen Mandate auf die nach dem Verhältnis der Zweitstimmen ermittelten Landeslistensitze einer Partei angerechnet werden; ist deren Zahl geringer als diejenige der von der Partei gewonnenen Wahlkreismandate, so fallen in Höhe der Differenz Überhangmandate an.

Nachdem die Wahlgesetze zum ersten Bundestag und zum zweiten Bundestag jeweils ein reines Landeslistensystem vorgesehen hatten, gestattete erstmals das Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 zur Ausnutzung der in den Ländern anfallenden Reststimmen eine parteiinterne Verbindung der Landeslisten (vgl. § 7 Abs. 1 und 3 BWG 1956). Für die Listenverbindungen wurde in § 7 Abs. 3 BWG 1956 die Unterverteilung auf die Landeslisten geregelt. Die bisherige Regelung zu den Überhangmandaten wurde beibehalten und auf die Listenverbindungen erstreckt (vgl. § 7 Abs. 3 i.V.m. § 6 Abs. 3 BWG 1956).

Von der Möglichkeit der Listenverbindung machten in der Folgezeit sämtliche Parteien, die sich nicht lediglich in einem Land zur Wahl gestellt haben, Gebrauch. Dieser Entwicklung trug der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 24. Juni 1975 Rechnung. Nach der geänderten Fassung des § 7 Abs. 1 BWG war von einer Listenverbindung auszugehen, wenn eine Partei nichts Gegenteiliges erklärte. Die Regelungen über die Unterverteilung auf die Landeslisten und zu den Überhangmandaten blieben unverändert.

Mit diesem Inhalt kamen die §§ 6 und 7 BWG, zuletzt in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993, bei den folgenden Bundestagswahlen zur Anwendung. Dabei wurden für Landeslisten derselben Partei, die kraft der Fiktion des § 7 Abs. 1 BWG als verbunden galten, die Sitze in einem zweistufigen Verfahren ermittelt. Zunächst wurde berechnet, wie viele Sitze auf die einzelnen Listenverbindungen und die nicht verbundenen Listen entfielen (Oberverteilung); auf dieser Stufe galt jede Listenverbindung nach § 7 Abs. 2 BWG als eine Liste. Sodann wurde ermittelt, wie viele der von der Listenverbindung errungenen Sitze den einzelnen Landeslisten zuzuweisen waren (Unterverteilung); insoweit bestimmte § 7 Abs. 3 Satz 1 BWG, dass § 6 Abs. 2 BWG, der für die Oberverteilung das Verfahren der Zuteilung der regulären Bundestagssitze gemäß dem Verhältnis der für die Parteien abgegebenen Zweitstimmen regelte, entsprechend galt. An diese Verteilung der Bundestagssitze auf die Landeslisten der Parteien schloss sich die Anrechnung der von einer Partei in den Wahlkreisen errungenen Mandate auf die Landeslistensitze nach § 6 Abs. 4 und 5 BWG an; für Listenverbindungen ordnete § 7 Abs. 3 Satz 2 BWG eine entsprechende Anwendung dieser Bestimmungen an.

Die Mandatszuteilung nach § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG konnte bewirken, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen einer Partei für diese zu einem Verlust an Sitzen oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen führte (sogenannter Effekt des negativen Stimmgewichts). War nämlich ein Verlust an Zweitstimmen für eine Partei in der bundesweiten Oberverteilung zwischen den verschiedenen Parteien nicht mit einem Sitzverlust verbunden, so konnte er doch die Unterverteilung der Sitze auf die einzelnen Landeslisten der betroffenen Partei in einem für diese Partei günstigen Sinn beeinflussen. Denn eine niedrigere Anzahl an Zweitstimmen konnte bei der Unterverteilung dazu führen, dass eine andere Landesliste vorrangig zum Zuge kam und die Partei daher dort – gerade aufgrund der verringerten Gesamtzahl an Zweitstimmen – ein weiteres Listenmandat erlangte. Umgekehrt konnte eine Partei durch mehr Zweitstimmen ein Überhangmandat verlieren und somit in der Gesamtmandatszahl schlechter stehen.

Mit Urteil vom 3. Juli 2008 sah das Bundesverfassungsgericht § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG, soweit dadurch der Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht wurde, als mit den Grundsätzen der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl unvereinbar an und erklärte die Regelung insoweit für verfassungswidrig. Zugleich gab das Gericht dem Gesetzgeber auf, den Regelungskomplex, der zum Auftreten des Effekts des negativen Stimmgewichts führen konnte, bis spätestens zum 30. Juni 2011 zu ändern. Im Hinblick darauf, dass der genannte Effekt untrennbar mit den Überhangmandaten und der Möglichkeit von Listenverbindungen zusammenhing, führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass eine Neuregelung sowohl beim Entstehen der Überhangmandate als auch bei der Verrechnung von Wahlkreismandaten mit den Listenmandaten oder auch bei der Möglichkeit der Listenverbindungen ansetzen könne.

Die Neuregelung der Sitzverteilung bei der Bundestagswahl[↑]

Zur Erfüllung dieses Regelungsauftrags legten die Fraktionen der CDU /CSU und FDP einen gemeinsamen sowie die Fraktionen der SPD, BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN und DIE LINKE jeweils eigene Gesetzentwürfe vor, zu denen am 5.09.2011 im Innenausschuss des Deutschen Bundestags eine öffentliche Sachverständigenanhörung stattfand. Am 21.09.2011 empfahl der Innenausschuss dem Plenum die Annahme des Entwurfs der Fraktionen der CDU /CSU und FDP mit der Maßgabe, dass der neu vorgeschlagene § 6 Abs. 2a BWG so gefasst werde, dass bei der Vergabe der Zusatzmandate vorrangig die Landeslisten berücksichtigt werden, bei denen die Zahl der in den Wahlkreisen errungenen Sitze die Zahl der nach § 6 Abs. 2 und 3 BWG zu verteilenden Sitze übersteigt. Der Deutsche Bundestag ist der Empfehlung des Innenausschusses gefolgt und hat am 29.09.2011 die Neuregelung beschlossen, die als Neunzehntes Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25.11.2011 am 3. Dezenmber 2011 in Kraft getreten ist.

Der Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, den Effekt des negativen Stimmgewichts dadurch zu beseitigen, dass die Möglichkeit der Listenverbindungen abgeschafft und die den Landeslisten jeweils zustehende Sitzzahl separat in den einzelnen Ländern ermittelt wird. Die Zahl der regulären Bundestagssitze soll zukünftig nach der Wählerzahl auf die Länder verteilt werden (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG), damit nur noch die Landeslisten der verschiedenen Parteien in einem Land um die zu vergebenden Sitze konkurrieren. Auf diese Weise werde der Effekt des negativen Stimmgewichts bei einer an der politischen Wirklichkeit orientierten Betrachtung komplett beseitigt. Das Neunzehnte Änderungsgesetz hat diese Regelungsziele umgesetzt, indem der bisherige § 7 BWG ersatzlos aufgehoben und § 6 Abs. 1 BWG entsprechend modifiziert wurde.

Darüber hinaus wurde § 6 Abs. 1 Satz 4 BWG, der für bestimmte Fälle eines doppelten Stimmerfolges den Abzug errungener Wahlkreismandate von der Zahl der regulären Bundestagssitze vorsieht, bevor die danach verbleibende Sitzzahl aufgrund der Zweitstimmen auf die Landeslisten der Parteien verteilt wird, um eine Regelung für den Fall der sogenannten Berliner Zweitstimmen ergänzt. Gemeint ist der Fall, dass Wähler mit ihrer Erststimme Wahlkreiskandidaten einer Partei, die die FünfProzentSperrklausel nicht überwindet und daher nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG bei der Zuteilung der Listenmandate nicht zu berücksichtigen ist, zu einem Mandat verhelfen und ihre Zweitstimme der Landesliste einer anderen, zuteilungsberechtigten Partei geben.

Schließlich wurde in § 6 Abs. 2a BWG mit der sogenannten Reststimmenverwertung ein zusätzlicher Verfahrensschritt eingeführt, der ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs darauf abzielt, Erfolgswertunterschiede unter den Landeslisten der Parteien, die aufgrund von Rundungsverlusten bei der Verteilung der Sitze in den 16 Sitzkontingenten entstehen, durch die Vergabe weiterer Sitze auszugleichen.

Für die Zuteilung der Bundestagssitze an Parteien ist nunmehr Folgendes vorgesehen:

  1. Sitzverteilung auf die Landeslisten:

    In einem ersten Schritt wird die jeder Landesliste zustehende Abgeordnetenzahl ermittelt. Hierzu wird zunächst nach dem Divisorverfahren nach SainteLaguë/Schepers die Zahl der Sitze errechnet, die von der Zahl der regulären Bundestagssitze auf jedes Land entfällt. Die Größe dieser Sitzkontingente richtet sich nach der Zahl der Wähler in jedem Land (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG). Von der Zahl der auf jedes Land entfallenden Sitze wird nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen, die als Einzelbewerber nach § 20 Abs. 3 BWG angetreten sind, die von einer an der Sperrklausel (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG) gescheiterten Partei vorgeschlagen worden sind oder für die in dem betreffenden Land keine Landesliste zugelassen worden ist. Die danach verbleibenden Sitze werden nach § 6 Abs. 2 BWG in Anwendung des Divisorverfahrens nach SainteLaguë/Schepers auf die zu berücksichtigenden Landeslisten zugeteilt. Berücksichtigt werden nur Landeslisten von Parteien, die mindestens 5 % der im Wahlgebiet – das heißt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (§ 2 Abs. 1 BWG) – abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG).

  2. Zusatzmandate:

    In einem zweiten Schritt werden nach § 6 Abs. 2a BWG Zusatzmandate vergeben. Hierzu wird für jedes Land die für einen Sitz durchschnittlich erforderliche Zweitstimmenzahl bestimmt. Zweitstimmen für Landeslisten, die das Produkt aus dieser Zahl und der Zahl der für die Partei ermittelten Sitze übersteigen, werden als Reststimmen bezeichnet. Die Reststimmen aller Landeslisten einer Partei werden addiert und durch die bundesweit für einen Sitz durchschnittlich erforderliche Zweitstimmenzahl geteilt. Zusatzmandate werden vergeben, soweit sich dabei ganzzahlige Sitzanteile ergeben (§ 6 Abs. 2a Satz 1 BWG). Diese werden an die Landeslisten zunächst in der Reihenfolge der höchsten Überhänge, anschließend in der Reihenfolge der höchsten Reststimmenzahlen zugeteilt (§ 6 Abs. 2a Satz 1 und Satz 2 BWG).

  3. Mehrheitssicherungsklausel:

    Für den Fall, dass auf die Landeslisten einer Partei bundesweit mehr als die Hälfte aller zu berücksichtigenden Zweitstimmen entfallen ist, die (vorläufige) Sitzzuteilung nach § 6 Abs. 2 und 2a BWG dieses Ergebnis jedoch nicht widerspiegelt, werden nach § 6 Abs. 3 BWG den Landeslisten dieser Partei in der Reihenfolge der höchsten Reststimmenzahlen weitere Sitze zugeteilt, bis auf die Landeslisten dieser Partei ein Sitz mehr als die Hälfte der bundesweit zu vergebenden Sitze entfällt (Mehrheitssicherungsklausel).

  4. Berücksichtigung der direkt gewählten Wahlkreismandate und die überhangmandate:

    Von der danach auf jede Landesliste entfallenden Abgeordnetenzahl werden schließlich die von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze abgezogen (§ 6 Abs. 4 Satz 1 BWG). Aus den Landeslisten werden nur diejenigen Sitze besetzt, die nach Abzug der Wahlkreismandate verbleiben (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BWG); die direkt gewählten Bewerber bleiben nach § 6 Abs. 4 Satz 3 BWG unberücksichtigt. In den Wahlkreisen eines Landes errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn ihre Zahl die Zahl der auf die Landesliste entfallenden Sitze übersteigt (§ 6 Abs. 5 Satz 1 BWG); die Gesamtzahl der Bundestagssitze vergrößert sich in diesem Fall um den Unterschiedsbetrag (§ 6 Abs. 5 Satz 2 BWG – sogenannte Überhangmandate).

 

Die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht[↑]

Gegen diese Änderungen richten sich

  • der Normenkontrollantrag von 214 Abgeordneten der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
  • die von 3063 Beschwerdeführern gemeinsam erhobene Verfassungsbeschwerde sowie
  • der Antrag der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Organstreitverfahren.

Im Wesentlichen wird von den Antragstellern und Beschwerdeführern in allen drei Verfahren gerügt, dass die vorgenommene Neuregelung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag mit den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit, der Chancengleichheit der Parteien und der Unmittelbarkeit der Wahl unvereinbar sei. Die Antragsteller wenden sich gegen die Entscheidung, die Größe der auf die Länder entfallenden Sitzkontingente nach der Wählerzahl zu bestimmen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG), sowie gegen die Vergabe von Zusatzmandaten nach § 6 Abs. 2a BWG. Darüber hinaus sehen sie die Wahlrechtsgleichheit dadurch verletzt, dass das Verfahren der Sitzzuteilung weiterhin den Anfall ausgleichsloser Überhangmandate in einem bedeutenden Ausmaß ermögliche, ohne dass sich hierfür eine Rechtfertigung finden lasse. Schließlich sind sie der Auffassung, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts auch unter Geltung des geänderten Bundeswahlrechts in verfassungsrechtlich nicht hinnehmbarer Weise auftreten könne.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[↑]

Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschriften des § 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2a BWG für nichtig und die Regelung über die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten (§ 6 Abs. 5 BWG) für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Es fehlt somit an einer wirksamen Regelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Die zuvor geltenden Bestimmungen leben nicht wieder auf, weil das Bundesverfassungsgericht sie mit Urteil vom 3. Juli 2008 ebenfalls für verfassungswidrig und nur für eine – zwischenzeitlich verstrichene – Übergangsfrist weiter anwendbar erklärt hat.

Die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG ermöglicht den Effekt des negativen Stimmgewichts und verletzt deshalb die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien. § 6 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2a des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. November 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2313) sind mit Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

In dem vom Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl sind Überhangmandate (§ 6 Abs. 5 BWG) nur in einem Umfang hinnehmbar, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt. Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien sind bei einem Anfall von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke verletzt. § 6 Absatz 5 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. November 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2313) ist nach Maßgabe der Gründe mit Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

Die Freiheit des Bundesgesetzgebers bei der Ausgestaltung des Wahlsystem[↑]

Die Wahl ist im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes der zentrale Vorgang, in dem das Volk die Staatsgewalt selbst ausübt (Art.20 Abs. 2 GG) und die Legitimation für die weitere Ausübung durch die gewählten Organe in seinem Namen schafft. Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist elementarer Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl trägt der vom Demokratieprinzip vorausgesetzten Gleichberechtigung der Staatsbürger Rechnung.

In welcher Weise der in Wahlen gebündelte politische Wille der Staatsbürger durch Zuteilung von Sitzen an Mandatsträger in dem zu wählenden Repräsentationsorgan umgesetzt wird, bedarf der Festlegung und näheren Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Dafür stehen verschiedene Wahlsysteme zur Verfügung, die zudem jeweils für Modifikationen offen sind.

Der Bundesgesetzgeber ist in seiner Entscheidung für ein Wahlsystem grundsätzlich frei. Art. 38 Abs. 1 und 2 GG gibt insoweit lediglich Grundzüge vor. Nach Art. 38 Abs. 3 GG bestimmt das Nähere ein Bundesgesetz. Aus dem Zusammenhang dieser Absätze, vor allem aber auch aus der Entstehungsgeschichte dieser Norm wird deutlich, dass der Verfassungsgeber die Festlegung und konkrete Ausgestaltung des Wahlsystems bewusst offen gelassen hat.

Der Gesetzgeber hat bei der Festlegung und konkreten Ausgestaltung des Wahlsystems verschiedenen auf die Ziele der Wahl bezogenen verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen. Die Wahl muss den Abgeordneten demokratische Legitimation verschaffen. Mit Rücksicht auf dieses Ziel muss der Gesetzgeber in Rechnung stellen, wie sich die Ausgestaltung des Wahlsystems auf die Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten auswirkt und wie sie den durch die Wahl vermittelten Prozess der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen beeinflusst. Die zu wählende Volksvertretung muss des Weiteren – insbesondere für die Aufgaben der Gesetzgebung und Regierungsbildung – funktionsfähig sein. Der Gesetzgeber hat auch zu berücksichtigen, dass er die Funktion der Wahl als Vorgang der Integration politischer Kräfte sicherstellen und zu verhindern suchen muss, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben. Zudem erlaubt das Bundesstaatsprinzip (Art.20 Abs. 1 GG) dem Gesetzgeber, sich bei der Ausgestaltung des Wahlrechts an dem gliedstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland zu orientieren.

Der Gesetzgeber kann den ihm von der Verfassung erteilten Auftrag zur Schaffung eines Wahlsystems, das diesen teils gegenläufigen Zielen genügt, nur erfüllen, wenn ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt. Dementsprechend steht es ihm grundsätzlich offen, ob er in Ausführung des Regelungsauftrags nach Art. 38 Abs. 3 GG das Verfahren der Wahl zum Deutschen Bundestag als Mehrheits- oder als Verhältniswahl ausgestaltet; unter dem Gesichtspunkt der repräsentativen Demokratie (Art.20 Abs. 2 Satz 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) kommt keinem der beiden Wahlsysteme ein Vorrang zu. Er kann auch beide Gestaltungen miteinander verbinden, indem er einen Teil der Mitglieder des Deutschen Bundestages nach dem Mehrheits- und den anderen nach dem Verhältniswahlprinzip wählen lässt (Grabensystem), eine Erstreckung des Verhältniswahlprinzips auf die gesamte Sitzverteilung unter Vorbehalt angemessener Gewichtung der Direktmandate gestattet oder sich für eine andere Kombination entscheidet.

Die gesetzgeberische Gestaltungsmacht findet ihre Grenzen aber dort, wo das jedem Bürger zustehende Recht auf freie und gleiche Teilhabe an der demokratischen Selbstbestimmung beeinträchtigt wird. Aus der Gewährleistung allgemeiner, unmittelbarer, freier und gleicher Wahl in Art. 38 Abs. 1 GG folgt die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers, ein Wahlverfahren zu schaffen, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann. Das Verfahren der Mandatszuteilung muss deshalb grundsätzlich frei von willkürlichen oder widersinnigen Effekten sein. Zudem verbietet der Grundsatz der Wahlfreiheit eine Gestaltung des Wahlverfahrens, die die Entschließungsfreiheit des Wählers in einer innerhalb des gewählten Wahlsystems vermeidbaren Weise verengt.

Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit[↑]

Weitere Grundanforderungen an alle Wahlsysteme ergeben sich insbesondere aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit. Danach sind unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung des Wahlverfahrens alle Wähler bei der Art und Weise der Mandatszuteilung strikt gleich zu behandeln. Die Stimme eines jeden Wahlberechtigten muss grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen können.

Dieser für alle Wahlsysteme einheitliche Maßstab verlangt, dass der Wahlgesetzgeber Erfolgschancengleichheit im gesamten Wahlgebiet gewährleistet, und dass das von ihm festgelegte Sitzzuteilungsverfahren in allen seinen Schritten seine Regeln auf jede Wählerstimme gleich anwendet und dabei auch die Folgen so ausgestaltet, dass jeder Wähler den gleichen potentiellen Einfluss auf das Wahlergebnis erhält.

Bei Aufteilung des Wahlgebietes in mehrere selbständige Wahlkörper müssen deshalb die Umstände, die den möglichen Einfluss einer Stimme prägen, in allen Wahlkörpern annähernd gleich sein. Das Bundesverfassungsgericht hat demgemäß für die Wahl von Abgeordneten in EinPersonenWahlkreisen in Mehrheitswahl – das heißt nach dem Verteilungsprinzip, dass nur die für den Kandidaten, der die absolute oder relative Mehrheit der Stimmen erhalten hat, abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung führen, während die auf alle anderen Kandidaten entfallenden Stimmen unberücksichtigt bleiben – als Gebot der Erfolgschancengleichheit gefordert, dass alle Wahlberechtigten auf der Grundlage möglichst gleichgroßer Wahlkreise und damit mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können.

Im Übrigen wirkt sich das Gebot der Erfolgschancengleichheit unterschiedlich aus, je nachdem, ob das Sitzzuteilungsverfahren – wie beim Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl – bereits mit dem Auszählen, Gutschreiben und Addieren der Wählerstimmen beendet ist, oder ob sich – wie beim Verteilungsprinzip der Verhältniswahl – noch ein Rechenverfahren anschließt, welches das Verhältnis der Stimmen für Parteilisten zu den Gesamtstimmen feststellt und dem entsprechend die Sitzzuteilung regelt. Im ersten Fall kann jeder Wähler auf die Mandatsvergabe allein durch Abgabe seiner gleich zu zählenden Stimme Einfluss nehmen, so dass sich die Erfolgschancengleichheit in der Gewährleistung annähernd gleichgroßer Wahlkreise und der gleichen Zählung und Gutschreibung jeder gültig abgegebenen Wählerstimme erschöpft. Im zweiten Fall erhält jeder Wähler die weitergehende Möglichkeit, mit seiner Stimme entsprechend dem Anteil der Stimmen „seiner“ Partei auch auf die Sitzzuteilung Einfluss zu nehmen. Die Erfolgschancengleichheit, die jeder Wählerstimme die gleichberechtigte Einflussnahmemöglichkeit auf das Wahlergebnis in allen Schritten des Wahlverfahrens garantiert, gebietet hier grundsätzlich, dass jede gültig abgegebene Stimme bei dem Rechenverfahren mit gleichem Gewicht mitbewertet wird, ihr mithin ein anteilsmäßig gleicher Erfolg zukommt (Erfolgswertgleichheit).

Aus dem formalen Charakter des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit folgt ferner, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Diese Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes. Es muss sich um Gründe handeln, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Gleichheit der Wahl sind.

Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele und den Grundsatz der Gleichheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht kann daher, sofern die differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine die Gleichheit der Wahl berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen
oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat.

Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien[↑]

Gleiche Anforderungen wie der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit stellt auch der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien an das Wahlrecht in Bezug auf Differenzierungen, die sich auf den Wettbewerb um Wählerstimmen auswirken.

Nach diesen Maßstäben verletzt das angegriffene Sitzzuteilungsverfahren die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien, soweit die Zuweisung von Ländersitzkontingenten nach der Wählerzahl (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG) den Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht. Die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien sind verletzt, soweit nach § 6 Abs. 2a BWG Zusatzmandate vergeben werden und § 6 Abs. 5 BWG das ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zulässt, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt.

Das negative Stimmengewicht und die Sitzkontingente der Länder[↑]

Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag darf die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts). Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien, sondern verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann. Ein Sitzzuteilungsverfahren ist mit der Verfassung unvereinbar, soweit es solche Effekte nicht nur in seltenen und unvermeidbaren Ausnahmefällen herbeiführt.

§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG sieht vor, dass jedem Land ein nach der Wählerzahl bemessenes Kontingent von Sitzen zugewiesen wird, um die nur noch die Landeslisten der in dem Land angetretenen Parteien konkurrieren. Die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl ermöglicht den Effekt des negativen Stimmgewichts, weil die auf das Land entfallende Sitzzahl nicht von einer vor der Stimmabgabe feststehenden Größe – wie etwa der Bevölkerung oder der Zahl der Wahlberechtigten – bestimmt wird, sondern an die jeweilige Wahlbeteiligung anknüpft. Der Effekt des negativen Stimmgewichts kann immer dann auftreten, wenn sich ein Zuwachs an Zweitstimmen der Landesliste einer Partei nicht auf deren Zahl an Sitzen auswirkt – weil die zusätzlichen Stimmen für die Zuteilung eines weiteren Sitzes nicht ausreichen oder weil der Landesliste aufgrund des Erststimmenergebnisses bereits mehr Wahlkreismandate als Listenmandate zustehen -, wenn jedoch zugleich eine mit dem Zweitstimmenzuwachs einhergehende Erhöhung der Wählerzahl das Sitzkontingent des Landes insgesamt um einen Sitz vergrößert. Dann kann der in diesem Land hinzugekommene Sitz auf eine konkurrierende Landesliste entfallen, oder die Landesliste derselben Partei kann in einem anderen Land einen Sitz verlieren. Entsprechendes gilt umgekehrt, wenn sich der Zweitstimmenverlust der Landesliste einer Partei auf deren Sitzzuteilungsergebnis nicht auswirkt, die damit einhergehende Verringerung der Wählerzahl aber das Sitzkontingent des Landes um einen Sitz verkleinert. Mit dem Eintritt derartiger Effekte ist immer dann zu rechnen, wenn – was mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist – eine Veränderung der Zweitstimmenzahl mit einer entsprechenden Veränderung der Wählerzahl einhergeht, etwa weil Wähler der Wahl fernbleiben.

Der Effekt des negativen Stimmgewichts kann nicht etwa deshalb hingenommen werden, weil er sich nicht konkret vorhersehen lässt und von dem einzelnen Wähler kaum beeinflusst werden kann. Denn bereits objektiv willkürliche Wahlergebnisse lassen den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen. Des Weiteren ist der Effekt des negativen Stimmgewichts keine zwangsläufige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl in Listenwahlkreisen auf Landesebene unter Verzicht auf bundesweite Listenverbindungen. Der Gesetzgeber ist nicht daran gehindert, diesen Ursachenzusammenhang innerhalb des von ihm geschaffenen Wahlsystems zu unterbinden, indem er zur Bemessung der Ländersitzkontingente statt der Wählerzahl etwa die Größe der Bevölkerung oder die Zahl der Wahlberechtigten als Grundlage für die Bestimmung der Ländersitzkontingente heranzieht.

§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG sieht vor, dass jedem Land ein nach der Wählerzahl bemessenes Kontingent von Sitzen zugewiesen wird, um die nur noch die Landeslisten der in dem Land angetretenen Parteien konkurrieren. Die durch diese Regelung angeordnete Unterteilung des Wahlgebietes in grundsätzlich voneinander getrennte regionale Wahlkörper – im Folgenden als Listenwahlkreise bezeichnet – ist zwar weder unter den Aspekten demokratischer Repräsentation und hinreichender Normbestimmtheit noch insoweit, als in kleinen Ländern eine faktische Sperrwirkung herbeigeführt wird, die das FünfProzentQuorum des § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG überschreitet, verfassungsrechtlich zu beanstanden. Jedoch verletzt § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit, der Chancengleichheit der Parteien und der Unmittelbarkeit der Wahl, soweit die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl den Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht.

Das Bundeswahlgesetz sieht nunmehr vor, dass die Listenmandate in den Ländern vergeben werden. Von der Gesamtzahl der Sitze werden den Ländern Kontingente von Sitzen zugewiesen, um die die Landeslisten der in dem Land angetretenen Parteien konkurrieren (§ 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BWG). Die Berechnung der einer Landesliste zustehenden Sitze erfolgt – wie im Ausgangspunkt auch die Berechnung der Sitzkontingente der Länder (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG) nach dem Divisorverfahren nach SainteLaguë/Schepers (§ 6 Abs. 2 BWG).

Mit dieser Unterteilung des Wahlgebietes in Listenwahlkreise sind im Vergleich zur bisherigen Rechtslage zwangsläufig Einbußen an Proportionalität verbunden. Zum einen werden – anders als bei einer bundesweiten Verteilung der Gesamtzahl der Sitze – in Ländern mit kleinen Sitzkontingenten nennenswerte faktische Zugangshürden zur Sitzzuteilung aufgerichtet. Denn die Zahl der Wählerstimmen, die von vornherein ohne Stimmerfolg bleiben, wird notwendig größer, wenn sich die Zahl der zu verteilenden Sitze verringert. Zum zweiten kann eine unterschiedliche Wahlbeteiligung in den Ländern dazu führen, dass die Wählerstimmen im Landesvergleich unterschiedliche Erfolgswerte aufweisen. Schließlich vergrößern sich die jedem mathematischen Verteilungsverfahren immanenten Proportionalitätsverluste, wenn die bei Anwendung des Divisorverfahrens entstehenden Abrundungsverluste und Aufrundungsgewinne der Landeslisten einer Partei nicht – wie bisher durch Verbindung der Landeslisten zu Verrechnungszwecken (§ 7 Abs. 1 und 2 BWG a.F.) – wahlgebietsbezogen ausgeglichen werden.

Der Gesetzgeber hat sich mit diesen Proportionalitätseinbußen nicht abgefunden, sondern zu deren Abmilderung die Zuweisung der Sitzkontingente an die Länder dynamisch an der Wählerzahl ausgerichtet (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG) sowie die länderinterne Sitzzuteilung nach § 6 Abs. 2 BWG um eine wahlgebietsbezogene „Reststimmenverwertung“ (§ 6 Abs. 2a BWG) ergänzt. Beide Regelungen zielen auf die Beseitigung von Erfolgswertunterschieden zwischen den Ländern beziehungsweise den Parteien und können damit als Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, proportionale Sitzzuteilung nicht nur in den Ländern, sondern möglichst im gesamten Wahlgebiet zu gewährleisten, gedeutet werden.

Die Unterteilung des Wahlgebiets in Listenwahlkreise und die Zuweisung von nach der Wählerzahl bemessenen Sitzkontingenten an diese sind mit dem Grundsatz demokratischer Repräsentation vereinbar.

Das in Art.20 Abs. 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Prinzip der Repräsentation ist das vom Grundgesetz gewählte Organisationsmodell, welches dem Volk die maßgebliche Bestimmungsmacht über die staatliche Gewalt verschaffen soll. Es bringt zum Ausdruck, dass jeder gewählte Abgeordnete das Volk vertritt und diesem gegenüber verantwortlich ist. Die Abgeordneten sind nicht einem Land, einem Wahlkreis, einer Partei oder einer Bevölkerungsgruppe, sondern dem ganzen Volk gegenüber verantwortlich; sie repräsentieren zudem das Volk grundsätzlich in ihrer Gesamtheit, nicht als Einzelne. Mit der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages kreiert das Bundesvolk sein unitarisches Vertretungsorgan.

Der unitarische Charakter des Deutschen Bundestages wird durch die Unterteilung des Wahlgebietes in Listenwahlkreise nicht in Frage gestellt. Wie im bisherigen Bundeswahlrecht ist Wahlgebiet das Bundesgebiet (vgl. § 2 Abs. 1, § 6 Abs. 2a, 3 BWG), ist das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland als Träger und Subjekt der Staatsgewalt zur Wahl berufen (vgl. §§ 12, 13 BWG) und werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Vertreter des ganzen Volkes, nicht als Repräsentanten der vereinigten Landesvölker gewählt. Lediglich für die Vorgänge der Stimmabgabe und auswertung wird das Wahlgebiet in zulässiger Anknüpfung an die bundesstaatliche Gliederung in selbständige Wahlkörper unterteilt, ohne dass die Länder hierdurch zu eigenständigen Wahlgebieten würden.

Dass die Sitzkontingente der Länder nicht nach einer vor der Stimmabgabe feststehenden Größe wie der Zahl der Bevölkerung oder der Wahlberechtigten, sondern nach der Zahl der Wähler bestimmt werden, ist unter dem Gesichtspunkt demokratischer Repräsentation nicht zu beanstanden. Da jeder der gewählten Abgeordneten das gesamte Staatsvolk repräsentiert, lässt sich in dieser Hinsicht aus dem Repräsentationsgrundsatz nichts herleiten. Jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang sind Maßstäbe für Repräsentationsgleichheit allein den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien zu entnehmen. Hinzu kommt, dass über die Wahlkreisabgeordneten, deren Zahl fest steht, lokale und regionale Anliegen zur Bundesebene hin vermittelt werden können und daher nicht zu besorgen ist, dass gewichtige Anliegen von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben und damit die Integrationsfunktion der Wahl verfehlt werden könnte.

§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG legt hinreichend bestimmt fest, wie die den Ländern zuzuweisenden Sitzkontingente zu ermitteln sind.

Nach dem Rechtsstaatsprinzip (Art.20 Abs. 3 GG) ist der Gesetzgeber gehalten, Gesetze hinreichend bestimmt zu fassen. Welcher Grad an Bestimmtheit geboten ist, lässt sich nicht generell und abstrakt festlegen, sondern hängt von der Eigenart des Regelungsgegenstands und dem Zweck der betreffenden Norm ab. Die Notwendigkeit der Auslegung einer gesetzlichen Begriffsbestimmung nimmt ihr noch nicht die Bestimmtheit, die der Rechtsstaat von einem Gesetz fordert.

Nach diesen Maßstäben ist § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG auch insoweit hinreichend bestimmt, als die von der Gesamtzahl der Sitze auf jedes Land entfallende Sitzzahl von der „Zahl der Wähler in jedem Land“ abhängig gemacht wird. Die Auslegung ergibt, dass die Zahl der Wahlberechtigten, die ihren Stimmzettel abgegeben haben, maßgeblich ist. Ein solches Normverständnis legt bereits der natürliche Wortsinn nahe. Während das Wort „Wahlberechtigter“ für eine Person steht, die von Rechts wegen an der Wahl teilnehmen darf, bezeichnet „Wähler“ eine Person, die ihr Wahlrecht wahrnimmt, also durch Abgabe ihres Stimmzettels am Wahltag oder mittels Briefwahl an der Wahl teilnimmt. Dieses durch den Wortsinn vorgegebene Verständnis wird durch systematische und entstehungsgeschichtliche Gründe erhärtet. Zum einen verwenden das Bundeswahlgesetz – etwa in den §§ 4, 12 bis 14 und 34 BWG – und die Bundeswahlordnung – insbesondere in § 67 Nr. 1 und Nr. 2 und § 68 BWO – die Begriffe „wählen“ und „wahlberechtigt“ seit jeher im vorgenannten Sinne. Zum anderen ging der Gesetzgeber davon aus, dass es für die Bestimmung der Sitzkontingente der Länder maßgeblich auf „die Zahl der Wähler in jedem Land, also aller Wahlberechtigten, die ihre Erst- oder Zweitstimme abgegeben haben“ ankomme.

Gegen die durch § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG bewirkte Unterteilung des Wahlgebietes in mit den Ländern identische Listenwahlkreise bestehen auch insoweit keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, als in kleinen Ländern eine faktische Sperrwirkung herbeigeführt wird, die in ihrer Wirkung den Umfang der FünfProzentSperrklausel (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG) überschreitet.

Das in § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG vorgesehene Quorum von fünf vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen, das eine Partei erreichen muss, um bei der Verteilung der Bundestagssitze auf die Landeslisten berücksichtigt zu werden, hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als verfassungskonform beurteilt. Die FünfProzentSperrklausel findet ihre Rechtfertigung in dem verfassungslegitimen Ziel, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern. Ob der Gesetzgeber das Quorum auf das gesamte Wahlgebiet oder auf den Listenwahlkreis bezieht, liegt grundsätzlich in seinem Ermessen. Insbesondere folgt daraus, dass ein Wahlgesetz keine Verrechnung der Stimmen auf eine Liste für das gesamte Wahlgebiet kennt, nicht, dass das Quorum nur auf den Listenwahlkreis bezogen werden dürfte.

Die Unterteilung des Wahlgebietes in mit den Ländern identische Listenwahlkreise kann dazu führen, dass in kleinen Ländern eine faktische Sperrwirkung herbeigeführt wird, die das in § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG gesetzlich angeordnete Quorum überschreitet. Dies wäre – unabhängig davon, ob man für die Bemessung der faktischen Sperrwirkung die Schwelle, unterhalb derer die Sitzzuteilung ausgeschlossen ist, oder die Schwelle, oberhalb derer die Zuteilung zumindest eines Sitzes sicher ist, heranzieht – bei Anwendung von § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG auf die Ergebnisse der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag jedenfalls in Bremen der Fall gewesen. Diese über die gesetzliche Sperrklausel hinausgehende Differenzierung beim Erfolgswert der für einzelne Landeslisten abgegebenen Stimmen ist vor der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien rechtfertigungsbedürftig.

Die zusätzliche Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen findet ihre Rechtfertigung im Bundesstaatsprinzip. Die Unterteilung des Wahlgebietes in mit den Ländern identische Listenwahlkreise orientiert sich an der bundesstaatlichen Gliederung und dem entsprechenden Aufbau der Parteien. Das damit verfolgte föderale Anliegen ist auch hinreichend gewichtig, um die mit der faktischen Sperrwirkung verbundenen Ungleichbehandlungen zu legitimieren.

Der Gesetzgeber hat dem Anliegen einer föderalen Zuordnung der Wählerstimmen ein größeres Gewicht als bisher beigemessen und das bereits vorhandene System der Wahl nach Landeslisten der Parteien gefestigt. Anders als bisher dient die Gliederung der Parteien in Landeslisten nicht nur der Vorbereitung und Durchführung der Wahl, sondern bestimmt das System des Bundeswahlgesetzes. Die Listenmandate werden in den Ländern nach Zuweisung von Sitzkontingenten grundsätzlich separat auf die jeweils angetretenen Parteilisten verteilt.

Hinter diese föderalen Belange durfte der Gesetzgeber die in kleinen Ländern im Vergleich zur gesetzlichen Sperrklausel zusätzliche Differenzierung beim Erfolgswert der für einzelne Landeslisten abgegebenen Stimmen zurückstellen. Die Heranziehung der Länder als Listenwahlkreise führt infolge der unterschiedlichen Ländergrößen zwangsläufig zu diesem Effekt. Auf die in Betracht kommenden wahltechnischen Möglichkeiten zu dessen Abmilderung musste der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht zurückgreifen. Für eine gebietliche Änderung der Listenwahlkreise oder die Bildung von Wahlkreisverbänden ergibt sich dies bereits daraus, dass beide Ausgestaltungen der Grundentscheidung des Gesetzgebers, die Unterteilung des Wahlgebietes an der bundesstaatlichen Gliederung auszurichten, zuwiderliefen. Die Zuteilung eines Mindestsitzkontingents an kleine Länder wiederum würde weitere Unterschiede in der Erfolgswertgleichheit der Stimmen zwischen den Listenwahlkreisen herbeiführen, was dem weiter verfolgten Ziel, proportionale Sitzzuteilung nicht nur in den Ländern, sondern möglichst im gesamten Wahlgebiet zu gewährleisten, widerspräche. Der Verzicht auf Listenverbindungen schließlich – und damit auf die Möglichkeit, in den einzelnen Ländern für eine Sitzzuteilung nicht ausreichende Zweitstimmen bundesweit zusammenzurechnen – zielt darauf ab, den im früheren Bundeswahlrecht aufgetretenen Effekt des negativen Stimmgewichts zu beseitigen, und soll damit den Grundsätzen der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl Rechnung tragen.

§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG verletzt die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien, soweit die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl den Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht. Ein Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl darf solche Effekte nur in seltenen Ausnahmefällen herbeiführen. Dem wird das Sitzzuteilungsverfahren nach § 6 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 BWG nicht gerecht.

Die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen darf im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts). Es ist zwar ohne Weiteres einsichtig, dass als mathematisch unausweichliche Folge eines jeglichen Verteilungsverfahrens einzelne Stimmen sich nicht zugunsten einer Partei auswirken können. Ein Sitzzuteilungsverfahren, das ermöglicht, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, widerspricht aber Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl. Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien, sondern verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann. Gesetzliche Regelungen, die derartige Effekte nicht nur in seltenen und unvermeidbaren Ausnahmefällen hervorrufen, sind mit der Verfassung nicht zu vereinbaren.

Das in § 6 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 BWG geregelte Sitzzuteilungsverfahren kann infolge der Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl dazu führen, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für Landeslisten einer Partei insofern negativ wirken, als diese Partei in einem anderen Land Mandate verliert oder eine andere Partei Mandate gewinnt. Umgekehrt ist es auch möglich, dass die Nichtabgabe einer Wählerstimme der zu unterstützenden Partei dienlich ist. Dieser Effekt des negativen Stimmgewichts ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Der Wirkungszusammenhang zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg lässt sich anhand von Szenarien veranschaulichen, in denen das Sitzzuteilungsverfahren hypothetisch auf die Ergebnisse früherer Bundestagswahlen angewendet wird und durch geringfügige Veränderungen der Zweitstimmenzahl einzelner Landeslisten alternative Wahlergebnisse erzeugt werden.

Beispielsweise hätte die Partei DIE LINKE bei der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag insgesamt ein Mandat mehr erzielt, wenn auf ihre Landesliste in Bayern eine bestimmte Zahl von Zweitstimmen weniger entfallen wäre, weil diese Wähler keinen Stimmzettel abgegeben hätten. Die bayerische Landesliste der Partei hätte in diesem Fall unverändert sechs Listenmandate erhalten, während sich das Sitzkontingent Bayerns zugunsten des Sitzkontingents von Nordrhein-Westfalen um einen Sitz verringert hätte (welchen die CSU weniger erhalten hätte, was sich angesichts ihrer 45 Wahlkreismandate auf ihre Mandatszahl nicht ausgewirkt hätte). In Nordrhein-Westfalen wäre dieser zusätzliche Sitz wieder an die Landesliste der Partei DIE LINKE zugeteilt worden.

Derselbe Effekt hätte auch in der Situation der Nachwahl im Dresdener Wahlkreis 160 bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag auftreten können. Hätten in diesem Wahlkreis 5.000 Wähler der CDU nicht nur ihre Zweitstimme entzogen, sondern wären der Wahl ferngeblieben, so hätte dies die Landesliste der Partei zwar ein Listenmandat gekostet (zehn statt elf Sitze); dies wäre jedoch folgenlos geblieben, weil der sächsische Landesverband der CDU ohnehin 14 Wahlkreismandate errungen hatte. Das Sitzkontingent Sachsens hätte sich indes zugunsten des Berliner Sitzkontingents verringert. In Berlin wäre dieser zusätzliche Sitz wieder an die Landesliste der CDU zugeteilt worden (sechs statt fünf Sitze), so dass die CDU insgesamt ein Mandat mehr erzielt hätte.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts davon abhängt, dass die Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl – und nicht nach einer vor der Stimmabgabe feststehenden Größe wie der Zahl der Bevölkerung oder der Wahlberechtigten – bestimmt werden. Denn nur wenn ein Zweitstimmenverlust einer Parteiliste in einem Land mit der Verringerung der Wählerzahl in diesem Land in dem Umfang einhergeht, dass sich das Sitzkontingent dieses Landes zugunsten eines anderen Landes vermindert, kann der beschriebene Wirkungszusammenhang zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg auftreten; andernfalls würde sich der Zweitstimmenverlust allein in dem betreffenden Land auswirken. Für den umgekehrten Fall eines Zweitstimmengewinns gilt Entsprechendes.

Der Gesetzgeber durfte das Auftreten dieses Effektes des negativen Stimmgewichts nicht außer Betracht lassen.

Bei der Feststellung, ob ein Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl solche Effekte herbeiführen kann, ist jede Größe zu berücksichtigen, deren Einfluss auf das Ergebnis der Sitzzuteilung im Wahlsystem angelegt ist. Dies trifft auf die Zahl der Wähler in jedem Land (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG) als Bemessungsgröße für die Bildung der Ländersitzkontingente zu. Das Verfahren für die Zuteilung der Listenmandate ist dadurch, dass die auf das jeweilige Land entfallende Sitzzahl (so genannte Hausgröße) an die jeweilige Wahlbeteiligung geknüpft ist, darauf ausgelegt, dass sich ein Zweitstimmengewinn oder verlust einer Landesliste auf das Zuteilungsergebnis eines anderen Landes auswirken kann. Die Annahme, unter der es dabei zum Effekt des negativen Stimmgewichts kommen kann – nämlich dass Wähler, wenn sie ihre Zweitstimme nicht einer bestimmten Partei gegeben hätten, der Wahl ganz fern geblieben wären – ist nicht weniger plausibel als die Annahme, dass diese Wähler ungültig oder für eine andere, nach § 6 Abs. 6 BWG nicht zu berücksichtigende Partei gestimmt hätten. Dass eine Vielzahl an Wählern von der negativen Komponente der Wahlfreiheit Gebrauch macht und überhaupt keine Stimme abgibt, ist ebenso möglich und praktisch wahrscheinlich wie die Konstellation, dass Wähler ihre Zweitstimme einer anderen Partei geben. Dies zeigen insbesondere anlässlich der Bundestagswahlen regelmäßig durchgeführte Untersuchungen zu Wählerwanderungen, die Bewegungen nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch zwischen dem Wähler- und dem Nichtwählerlager in beträchtlichem Umfang festgestellt haben. Der Gesetzgeber durfte deshalb den Umstand, dass ein Zweitstimmenverlust mit einer gleichzeitigen Verringerung der Wählerzahl einhergehen kann (und umgekehrt), nicht von vornherein ausblenden.

Der Effekt des negativen Stimmgewichts kann von Verfassungs wegen auch nicht etwa deshalb hingenommen werden, weil er sich nicht konkret vorhersehen oder planen lässt und von dem einzelnen Wähler kaum beeinflusst werden kann. Inwieweit diese Prämisse zutrifft, kann dahinstehen. Denn bereits objektiv willkürliche Wahlergebnisse lassen den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen.

Die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl bewirkt den Effekt des negativen Stimmgewichts nicht nur in seltenen, vernachlässigbaren Ausnahmefällen. Er kann immer dann auftreten, wenn sich der Zweitstimmengewinn der Landesliste einer Partei auf deren Sitzzuteilungsergebnis nicht auswirkt – weil die zusätzlichen Stimmen für die Zuteilung eines weiteren Sitzes nicht ausreichen oder der Landesliste mehr Wahlkreismandate als Listenmandate zustehen, die mit dem Zweitstimmengewinn einhergehende Erhöhung der Wählerzahl aber das Sitzkontingent des Landes um einen Sitz vergrößert, der in diesem Land auf eine konkurrierende Landesliste entfällt oder in einem anderen Land von der Landesliste derselben Partei verloren wird. Entsprechendes gilt, wenn sich der Zweitstimmenverlust der Landesliste einer Partei auf deren Sitzzuteilungsergebnis nicht auswirkt, die damit einhergehende Verringerung der Wählerzahl aber das Sitzkontingent des Landes um einen Sitz verkleinert, der in diesem Land von einer konkurrierenden Landesliste verloren wird oder in dem anderen Land auf die Landesliste derselben Partei entfällt.

Das Zusammentreffen der verschiedenen Faktoren, die den Effekt des negativen Stimmgewichts verursachen, ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Mit dem Eintritt des Effekts ist zu rechnen, wenn eine Veränderung der Zweitstimmenzahl mit einer Veränderung der Wählerzahl korreliert. Wahlmathematische Analysen, die Wählerzahl und Zahl der für eine bestimmte Landesliste abgegebenen Zweitstimmen gleichzeitig variieren – Wahlergebnisse also unter der Voraussetzung vergleichen, dass eine bestimmte Anzahl von Wählern einer bestimmten Partei die Zweitstimme entzieht, indem sie der Wahl ganz fernbleibt, lassen nach Untersuchung der Ergebnisse mehrerer Bundestagswahlen den Schluss zu, dass der durch § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG bewirkte Effekt des negativen Stimmgewichts mindestens in etwa der gleichen Größenordnung aufgetreten wäre wie der vom Entstehen von Überhangmandaten abhängige Effekt des negativen Stimmgewichts im bisherigen Wahlrecht. Auch die Antragsteller und Beschwerdeführer haben dies anhand mehrerer Beispiele plausibel gemacht, deren Berechnung von den Verfahrensbevollmächtigten des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung nicht in Zweifel gezogen wurde.

Der Effekt des negativen Stimmgewichts ist schließlich keine zwangsläufige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl in Listenwahlkreisen. Ein solches Wahlsystem erfordert keine Ausgestaltung, nach der sich die für eine Partei abgegebenen Stimmen zu ihrem Nachteil oder zum Vorteil einer anderen Partei auswirken können oder die Nichtabgabe einer Stimme der unterstützten Partei zu nützen vermag. Wie dargelegt, hängt der Effekt des negativen Stimmgewichts davon ab, dass mit der Veränderung der Zweitstimmenzahl in einem Land eine Veränderung der Wählerzahl einhergeht und dadurch eine Sitzverschiebung zwischen den Ländern bewirkt wird. Von Verfassungs wegen ist der Gesetzgeber nicht daran gehindert, diesen Ursachenzusammenhang innerhalb des von ihm geschaffenen Wahlsystems zu unterbinden, indem er zur Bemessung der Ländersitzkontingente statt der Wählerzahl die Zahl der Bevölkerung oder der Wahlberechtigten heranzieht. Denn jede vom Wahlverhalten der Wahlberechtigten nicht beeinflusste Größe als Grundlage der Bestimmung der Ländersitzkontingente würde den Effekt des negativen Stimmgewichts bei der Sitzzuteilung vermeiden.

Infolge des Verzichts auf eine Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl kann zwar eine unterschiedliche Wahlbeteiligung in den Ländern dazu führen, dass die Wählerstimmen im Landesvergleich unterschiedliche Erfolgswerte aufweisen, wodurch die Genauigkeit der verhältnismäßigen Repräsentation beeinträchtigt wäre. Allerdings ist dieser Nachteil nicht derart gewichtig, dass er die massive Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien durch den Effekt des negativen Stimmgewichts überwöge. Der Gesetzgeber hat das Ziel der Verhältniswahl, den politischen Willen der Wählerschaft im Parlament möglichst wirklichkeitsnah abzubilden, verschiedentlich in verfassungsrechtlich zulässiger Weise relativiert. Namentlich hat er den Zugang zum Sitzzuteilungsverfahren von der Überwindung der FünfProzentSperrklausel abhängig gemacht (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG), in kleinen Ländern die Herbeiführung einer das gesetzliche Quorum überschreitenden effektiven Sperrwirkung hingenommen und für den Fall eines fehlgeschlagenen Verhältnisausgleichs nach § 6 Abs. 4 BWG den Anfall von Überhangmandaten zugelassen. Hinzu kommt, dass das tatsächliche Stimmgewicht von verschiedenen Umständen der jeweiligen Wahl abhängt. Dazu kann auch die Wahlbeteiligung gerechnet werden, die daher bei der normativen Sicherung der Erfolgswertgleichheit keine Berücksichtigung finden muss.

Die Zusatzmandate[↑]

Die Vergabe von Zusatzmandaten nach § 6 Abs. 2a BWG verletzt ebenfalls die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien. Die Regelung zielt darauf ab, Rundungsverluste bei der Zuteilung von Sitzen auf Landesebene im Rahmen einer bundesweiten Verrechnung auszugleichen (sog. Reststimmenverwertung).

An der Vergabe dieser zusätzlichen Bundestagssitze kann nicht jeder Wähler mit gleichen Erfolgschancen mitwirken. Denn durch die Reststimmenverwertung wird einem Teil der Wählerstimmen eine weitere Chance auf Mandatswirksamkeit eingeräumt. Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, Erfolgswertunterschiede, die durch die länderinterne Sitzzuteilung entstehen, auszugleichen, ist zwar von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die Regelung ist jedoch zur Erreichung dieses Ziels nicht geeignet. Sie berücksichtigt nur einseitig die Abrundungsverluste der Landeslisten einer Partei und lässt deren Aufrundungsgewinne außer Betracht. Dadurch werden zwar die bislang ohne Stimmerfolg gebliebenen Stimmen unter Umständen mandatswirksam, die vergleichsweise größere Erfolgskraft der bislang übergewichteten Stimmen bleibt jedoch unverändert bestehen. Somit werden Zusatzmandate nicht zur Herstellung von Erfolgswertgleichheit, sondern in Abweichung hiervon vergeben. Die Regelung ist auch nicht geeignet, eine mit den Überhangmandaten verbundene Verzerrung der Erfolgswertgleichheit auszugleichen.

Die Vergabe von Zusatzmandaten nach § 6 Abs. 2a BWG verletzt ebenfalls die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien. Die Regelung genügt zwar den Anforderungen hinreichender Normbestimmtheit. Sie bewirkt jedoch eine Ungleichbehandlung der Wählerstimmen, die nicht durch einen zureichenden Grund legitimiert werden kann.

Der Gesetzgeber hat in § 6 Abs. 2a BWG die länderinterne Sitzzuteilung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 BWG um eine bundesweite „Reststimmenverwertung“ ergänzt. Dieser Verfahrensschritt zielt darauf ab, „Erfolgswertunterschiede unter den Landeslisten der Parteien, die aufgrund von Rundungsverlusten bei der Verteilung der Sitze in den 16 Sitzkontingenten entstehen“, durch die Vergabe weiterer Sitze (§ 6 Abs. 2a Satz 3 BWG) auszugleichen. Um die Zahl der Zusatzmandate einer Partei zu bestimmen, werden die Wählerstimmen, die bei der länderinternen Sitzzuteilung ohne Stimmerfolg geblieben sind, weil sie keinen Zahlenbruchteil erreicht haben, der seiner Höhe nach zur Zuteilung eines Sitzes ausreicht („Reststimmen“), für jede Landesliste identifiziert, bundesweit aufsummiert und durch die im Bundesdurchschnitt für ein Mandat erforderliche Zweitstimmenzahl dividiert; Zusatzmandate werden im Umfang der sich dabei ergebenden ganzzahligen Sitzanteile vergeben (§ 6 Abs. 2a Satz 1 BWG). Die Zusatzmandate werden vorrangig den Landeslisten einer Partei zugeteilt, bei denen Überhangmandate angefallen sind, anschließend in der Reihenfolge der höchsten „Reststimmen“ (§ 6 Abs. 2a Satz 1, 2 BWG).

Damit genügt § 6 Abs. 2a BWG den Anforderungen hinreichender Normbestimmtheit. Durch Auslegung lässt sich ermitteln, dass zur Bestimmung der in einem Land bislang ohne Stimmerfolg gebliebenen Stimmen von den auf eine Landesliste entfallenden Zweitstimmen das Produkt aus errungener Sitzzahl und dem LandesHareQuotienten (Gesamtzahl der in einem Land zuteilungsberechtigten Zweitstimmen geteilt durch die Zahl der auf das Land entfallenden Sitze) abzuziehen ist, während der für die Bestimmung der exakt proportionalen „Restsitzzahlen“ maßgebliche Divisor der BundesHareQuotient ist. Dies bringt jeweils die Wendung „erforderliche Zweitstimmen“ zum Ausdruck, die je nach Kontext den im jeweiligen Land von einer Landesliste beziehungsweise den im Bundesdurchschnitt zu entrichtenden „Preis“ für ein Mandat umschreibt. Aus Wortlaut, systematischer Stellung im gesamten Sitzzuteilungsverfahren sowie Regelungszweck des § 6 Abs. 2a BWG ergibt sich zudem, dass die Zuteilung der Zusatzmandate – trotz rechnerisch möglicher Wiederholung dieses Verfahrensschrittes – nur einmal vorgenommen werden soll.

Die Zuteilung der Zusatzmandate nach § 6 Abs. 2a BWG behandelt Wählerstimmen im Sitzzuteilungsverfahren ungleich und greift in die Chancengleichheit der Parteien ein, ohne dass dies durch einen besonderen, sachlich legitimierten Grund gerechtfertigt wäre.

An der Vergabe der zusätzlichen Bundestagssitze, die außerhalb des Proporzes zugeteilt werden, kann nicht jeder Wähler mit gleichen Erfolgschancen mitwirken. Die länderinterne Sitzzuteilung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 BWG berücksichtigt bereits sämtliche gültig für eine nach § 6 Abs. 1 Satz 4 BWG zuteilungsberechtigte Landesliste abgegebenen Zweitstimmen und behandelt diese, wenn auch Reststimmen ohne Erfolgswert bleiben, rechtlich gleich. § 6 Abs. 2a BWG räumt einem gleichheitswidrig abgegrenztem Teil der Wählerstimmen eine weitere Chance auf Mandatswirksamkeit ein und gestaltet das Sitzzuteilungsverfahren dadurch in einer Weise aus, dass nicht mehr jeder Wähler – ex ante – die gleiche rechtliche Möglichkeit erhält, auf die Sitzzuteilung – und damit auf das politische Kräfteverhältnis im Parlament – in der gleichen Weise Einfluss zu nehmen wie jeder andere Wähler auch. Diese Differenzierung bei der Berücksichtigung von Wählerstimmen beeinträchtigt auch die Chancengleichheit der Parteien.

Diese ungleiche Behandlung der Wählerstimmen ist nicht gerechtfertigt.

Dies gilt zunächst im Hinblick auf das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, die durch die länderinterne Sitzzuteilung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 BWG bewirkten Erfolgswertunterschiede auszugleichen. Die Entscheidung, den durch die Unterteilung des Wahlgebietes in Listenwahlkreise herbeigeführten Proportionalitätseinbußen durch einen wahlgebietsbezogenen Verhältnisausgleich entgegenzuwirken, ist zwar von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die Vergabe von Zusatzmandaten nach § 6 Abs. 2a BWG ist jedoch zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet.

Ein wahlgebietsbezogener Ausgleich der sich aus der vielfachen Sitzzuteilung nach dem Divisorverfahren nach SainteLaguë/Schepers in den Listenwahlkreisen ergebenden kumulierten Rundungsabweichungen von den exakt proportionalen Sitzzahlen der Landeslisten setzt voraus, dass in sämtlichen Listenwahlkreisen sowohl die Abrundungsverluste als auch die Aufrundungsgewinne der Landeslisten einer Partei identifiziert, wahlgebietsbezogen aufsummiert und anschließend miteinander verrechnet werden. Eine solche Verrechnung der Abrundungsverluste und Aufrundungsgewinne würde bezogen auf das Wahlgebiet einen Ausgleich der Erfolgswerte der Wählerstimmen bewirken. Bislang ohne Stimmerfolg gebliebene Wählerstimmen werden in diesem Fall mandatswirksam, während uno actu bislang übergewichteten Stimmen ihre vergleichsweise größere Erfolgskraft so weit wie möglich genommen wird.

§ 6 Abs. 2a BWG erfüllt diese Voraussetzungen eines wahlgebietsbezogenen Verhältnisausgleichs nicht und ist daher zur Erreichung des Zieles, die durch die länderinterne Sitzzuteilung bewirkten Erfolgswertunterschiede auszugleichen, nicht geeignet. Die Regelung identifiziert nur einseitig die Abrundungsverluste der Landeslisten einer Partei in den 16 Ländern, summiert diese bundesweit auf und vergibt, soweit sich dabei ganzzahlige Sitzanteile ergeben, hierfür zusätzliche Sitze. Aufrundungsgewinne der Landeslisten einer Partei lässt die Regelung außer Betracht. Dies hat zur Folge, dass bislang ohne Stimmerfolg gebliebene Stimmen zwar unter Umständen mandatswirksam werden, die vergleichsweise größere Erfolgskraft der bislang übergewichteten Stimmen jedoch unverändert bestehen bleibt. Ein Ausgleich der aus der 16fachen Sitzzuteilung nach dem Divisorverfahren nach SainteLaguë/Schepers in den Ländern resultierenden Erfolgswertunterschiede findet mithin nicht statt; Zusatzmandate werden nicht zur Herstellung von Erfolgswertgleichheit, sondern in Abweichung hiervon erzeugt.

§ 6 Abs. 2a BWG ist nicht durch das Ziel gerechtfertigt, die durch die Unterteilung des Wahlgebietes in mit den Ländern identische Listenwahlkreise in kleinen Ländern herbeigeführte faktische Sperrwirkung, die das in § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG gesetzlich angeordnete Quorum überschreitet, zu kompensieren. Dies folgt schon daraus, dass die Regelung nicht folgerichtig auf die Erreichung dieses Ziels abgestimmt ist. Zusatzmandate werden nicht zielgenau an Parteien vergeben, deren Landeslisten von einer das gesetzliche Quorum überschreitenden effektiven Sperrwirkung betroffen sind, sondern je nach „Rundungsglück“ oder „Rundungspech“ in den Ländern an prinzipiell jede Partei. Die zusätzlichen Sitze werden zudem nicht vorrangig den von einer hohen faktischen Sperrwirkung betroffenen Landeslisten zugeteilt, sondern stattdessen zunächst den Landeslisten, bei denen Überhangmandate angefallen sind, und anschließend in der Reihenfolge der höchsten „Reststimmen“.

Schließlich ist § 6 Abs. 2a BWG nicht geeignet, eine mit den Überhangmandaten verbundene Verzerrung der Erfolgswertgleichheit auszugleichen. Der mit der Regelung unternommene Versuch, entstandene Überhangmandate im Wege einer Reststimmenverwertung mit Zweitstimmen zu unterlegen und dadurch als proportionalitätsgerecht erscheinen zu lassen, schlägt fehl, weil allein die infolge von Abrundungsverlusten bislang nicht erfolgswirksam gewordenen Stimmen, ohne Gegenrechnung der Aufrundungsgewinne, herangezogen und auf diese Weise zusätzliche Mandate in disproportionalem Umfang erzeugt werden.

Die ausgleichslosen Überhangmandate[↑]

Die Regelung des § 6 Abs. 5 BWG zu den Überhangmandaten verstößt insoweit gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, als ausgleichslose Überhangmandate in einem Umfang zugelassen werden, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben kann. Dies ist der Fall, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet.

Das vom Gesetzgeber geschaffene Wahlsystem trägt – unbeschadet der Direktwahl der Wahlkreiskandidaten nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl – den Grundcharakter einer Verhältniswahl. Denn durch die Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Listenmandate der jeweiligen Partei wird die Gesamtzahl der Sitze so auf die Parteien verteilt, wie es dem Verhältnis der Summen der für sie abgegebenen Zweitstimmen entspricht, während die Erststimme grundsätzlich nur darüber entscheidet, welche Personen als Wahlkreisabgeordnete in den Bundestag einziehen. Übersteigt die Zahl der von einer Partei in den Wahlkreisen errungenen Sitze die ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehende Sitzzahl, so verbleiben die Sitze der Partei gleichwohl. Die Gesamtzahl der Sitze des Deutschen Bundestages erhöht sich in diesem Fall um die Unterschiedszahl, ohne dass ein erneuter Verhältnisausgleich stattfindet.

Die Zuteilung von Überhangmandaten ohne Ausgleich oder Verrechnung behandelt Wählerstimmen im Sitzzuteilungsverfahren ungleich, weil dadurch neben der Zweitstimme auch die Erststimme Einfluss auf die Sitzverteilung im Bundestag gewinnt. Diese ungleiche Gewichtung der Wählerstimmen ist durch das verfassungslegitime Ziel, dem Wähler im Rahmen einer Verhältniswahl die Wahl von Persönlichkeiten zu ermöglichen, zwar grundsätzlich gerechtfertigt. Jedoch sind in dem vom Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl Überhangmandate nur in einem Umfang hinnehmbar, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt.

Bei einem Anfallen von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke sind die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien verletzt. Diese Größenordnung orientiert sich zum einen an dem nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages für den Fraktionsstatus erforderlichen Quorum von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages und berücksichtigt zum anderen den mit der Neuregelung der sog. Berliner Zweitstimmen (§ 6 Abs. 1 Satz 4 letzte Alt. BWG) erneut bekräftigten Willen des Gesetzgebers, den Einfluss der Erststimme auf die Verteilung der Listenmandate möglichst einzudämmen. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, den Wahlen zu den kommenden Bundestagen eine verlässliche rechtliche Grundlage zu geben und dem Risiko einer Auflösung des Parlaments im Wahlprüfungsverfahren zu begegnen, hält der Senat es für geboten, die gesetzlichen Wertungen in einem handhabbaren Maßstab zusammenzuführen, an den der Gesetzgeber anknüpfen kann. Daraus ergibt sich eine zulässige Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten.

Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklung bei den Überhangmandaten, deren Zahl seit der Wiedervereinigung deutlich zugenommen und zuletzt ein erhebliches Ausmaß erreicht hat, und angesichts der veränderten politischen Verhältnisse, die den Anfall von Überhangmandaten zunehmend begünstigen, ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die Zahl der Überhangmandate den verfassungsrechtlich hinnehmbaren Umfang auf absehbare Zeit regelmäßig deutlich übersteigen wird. Der Gesetzgeber ist daher gehalten, Vorkehrungen zu treffen, die ein Überhandnehmen ausgleichsloser Überhangmandate unterbinden.

§ 6 Abs. 5 BWG verstößt insoweit gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, als er das ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zulässt, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben kann. Dies ist der Fall, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet.

Die verfassungsrechtliche Würdigung von § 6 Abs. 5 BWG hat davon auszugehen, dass das vom Gesetzgeber geschaffene Wahlsystem infolge der in § 6 Abs. 4 BWG normierten Anrechnung der von einer Partei in den Wahlkreisen eines Landes errungenen Sitze auf die der zugehörigen Landesliste zugefallenen Sitze den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt.

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 BWG nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt. Diese Verbindung von Personen- und Verhältniswahl wird im Bundeswahlgesetz dadurch verwirklicht, dass jeder Wähler nach § 4 BWG zwei Stimmen hat. Das Element der Personenwahl findet darin seinen Ausdruck, dass 299 Abgeordnete, also die Hälfte, mit der Erststimme auf der Grundlage von Kreiswahlvorschlägen in (Personen-)Wahlkreisen nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl gewählt werden (§ 1 Abs. 2, § 4 1. Halbsatz, § 5 BWG). Mit der Zweitstimme werden die übrigen 299 Abgeordneten aufgrund von Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) der politischen Parteien in den mit den Ländern identischen Listenwahlkreisen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt (§ 1 Abs. 2, § 4 2. Halbsatz, § 6, § 27 Abs. 1 Satz 1 BWG).

Das Verhältnis von Erst- und Zweitstimme ist in den §§ 5 und 6 BWG geregelt, nach denen die Sitze im Deutschen Bundestag zugeteilt werden. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 BWG wird die Gesamtzahl der im Bundestag zu vergebenden Mandate von 598 – abzüglich der Mandate nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG – auf die Landeslisten der Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Zweitstimmen im Divisorverfahren nach SainteLaguë/Schepers verteilt; dabei bleiben die Parteien unberücksichtigt, die nicht wenigstens fünf vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen Zweitstimmen erhalten oder nicht in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben (§ 6 Abs. 6 BWG). Anschließend wird die Zahl dieser Listenmandate reduziert, indem die von einer Partei errungenen Wahlkreismandate von den auf sie im jeweiligen Land entfallenden Listenmandaten abgezogen werden; die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt (§ 6 Abs. 4 BWG). Durch die Verrechnung der Wahlkreismandate mit den Listenmandaten wird im Grundsatz die Gesamtzahl der Sitze – unbeschadet der vorgeschalteten Personenwahl – so auf die Parteilisten verteilt, wie es dem Verhältnis der Summen ihrer Zweitstimmen entspricht, während die Erststimme grundsätzlich nur darüber entscheidet, welche Personen als Wahlkreisabgeordnete in den Bundestag einziehen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass jeder Wähler im Grundsatz nur einmal Einfluss auf die zahlenmäßige Zusammensetzung des Parlaments nehmen kann.

Allerdings führt die gewählte Form der Verbindung der Verhältniswahl mit dem Element der Personenwahl dazu, dass die Verrechnung der Wahlkreismandate mit den Listenmandaten nicht stets einen vollen Ausgleich der Sitzzuteilung im Sinne des Proporzes bewirken kann und soll. Der Gesetzgeber hat in § 6 Abs. 5 Satz 1 BWG klargestellt, dass die im jeweiligen Land in den Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei verbleiben. Wird das Ziel des Verhältnisausgleichs durch den Rechenschritt nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BWG unvollständig erreicht, weil die Sitze, die einer Landesliste nach dem Verhältnis der Summen der Zweitstimmen zustehen, nicht ausreichen, um alle errungenen Wahlkreismandate abzuziehen, so erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze des Bundestages um die Unterschiedszahl (§ 6 Abs. 5 Satz 2 BWG); es entstehen Überhangmandate jenseits der proportionalen Sitzverteilung.

Das vom Gesetzgeber geschaffene Wahlsystem ist darauf angelegt, die Ergebnisse der vorgeschalteten Personenwahl zu erhalten, ohne dadurch bedingte Proporzstörungen zu vermeiden oder zu neutralisieren. Der Gesetzgeber hat der Zielsetzung, dem Wähler unverkürzt zu ermöglichen, im Rahmen einer Verhältniswahl Persönlichkeiten zu wählen, den Vorrang eingeräumt vor einer möglichst weitgehend dem Verhältnis der Zweitstimmen entsprechenden Sitzverteilung.

Das Bundesverfassungsgericht ist in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, dass die Bundestagswahl infolge des auf der zweiten Stufe der Sitzzuteilung durchzuführenden Verhältnisausgleichs (§ 6 Abs. 4 BWG) und unbeschadet der Direktwahl der Wahlkreiskandidaten nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt.

Dem Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht die Zuteilung von Überhangmandaten außerhalb der proportionalen Verteilung der regulären Sitze in ständiger Rechtsprechung am Erfordernis der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen gemessen. An dieser Rechtsprechung hält das Bundesverfassungsgericht fest.

Ungeachtet der Frage, ob die ausgleichslose Zuteilung einer größeren Zahl von Überhangmandaten verfassungsrechtlich zulässig ist, sind sämtliche die Überhangmandate betreffenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zunächst davon ausgegangen, dass der Gedanke der Gleichheit der Wahl „nicht restlos verwirklicht wird“, wenn das Bundeswahlgesetz ausgleichslose Überhangsmandate zulässt; hierdurch trete eine Differenzierung des Stimmgewichts zwischen Wählern ein, deren Parteien keine Überhangmandate erzielt haben, und Wählern solcher Parteien, denen das gelungen ist. Diese Ungleichheit könne nur hingenommen werden, soweit sie notwendig sei, um das Anliegen der personalisierten Verhältniswahl zu verwirklichen; diese wolle zumindest für die Hälfte der Abgeordneten eine enge persönliche Bindung zu ihrem Wahlkreis gewährleisten.

In keiner der vorliegenden Entscheidungen ist über die Verfassungskonformität der Regelung des § 6 Abs. 5 BWG generell und abstrakt, also für jeden künftig denkbaren Fall der Zuteilung von Überhangmandaten entschieden worden. Vielmehr wurde nur geprüft, ob das jeweilige Ausmaß der Differenzierung des Erfolgswertes in der zugrundeliegenden konkreten Situation gerechtfertigt war, wobei durchweg auf die Grenzen Bedacht genommen wurde, die der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit zieht. Lediglich in Bezug auf die Frage, wo genau die verfassungsrechtliche Grenze für den Anfall ausgleichsloser Überhangmandate zu ziehen ist, lässt sich der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine einheitliche Antwort entnehmen. Während die Entscheidungen vom 03.07.1957 und 24.11.1988 zu einer genaueren Grenzziehung keine Veranlassung sahen, weil sich die Zahl der angefallenen Überhangmandate jedenfalls innerhalb des für zulässig erachteten Rahmens hielt, ging der Beschluss vom 22.05.1963 davon aus, dass der Anfall von Überhangmandaten auf ein „verfassungsrechtlich zulässiges Mindestmaß beschränkt“ sei. Das Urteil vom 10.04.1997 konstatierte demgegenüber, dass die Zahl der Überhangmandate sich in einem Rahmen halten müsse, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als einer am Ergebnis der für die Parteien abgegebenen Stimmen orientierten Verhältniswahl nicht aufhebt, ohne jedoch die zugrundeliegende Annahme, dass eine Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen vorliege, in Frage zu stellen.

Das Bundesverfassungsgericht hält an dieser Rechtsprechung fest. Überhangmandate fallen als solche infolge der Verrechnung der Wahlkreismandate mit den Listenmandaten nach § 6 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 5 BWG an. Die damit verbundene Abweichung vom Grundsatz der Erfolgswertgleichheit bedarf der Rechtfertigung.

Nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BWG wird die Zahl der von einer Partei in den Wahlkreisen nach den Regeln der Mehrheitswahl errungenen (§ 5 Satz 1 und 2 BWG) Sitze von der für die jeweilige Landesliste ermittelten Abgeordnetenzahl abgezogen. Nur soweit dieser Abzug nicht möglich ist, weil die Zahl der Wahlkreismandate die Zahl der Listenmandate übersteigt, verbleibt der Partei die Differenz als Überhang an Mandaten (§ 6 Abs. 5 BWG). Überhangmandate sind danach das Ergebnis eines nicht vollständig durchführbaren Verrechnungsverfahrens, das konzeptionell auf eine Verteilung der Gesamtzahl der Sitze auf die Parteilisten entsprechend dem Verhältnis der Summen ihrer Zweitstimmen ausgerichtet ist.

Der Verhältnisausgleich nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BWG unterliegt unbeschränkt den allgemeinen Anforderungen an die Erfolgswertgleichheit. Nur aus der Voraussetzung, dass das Wahlsystem als Ganzes durch das Prinzip der Verhältniswahl geprägt ist und den hierfür geltenden Anforderungen an die Erfolgswertgleichheit unterliegt, erklären sich auch die in ständiger Rechtsprechung für die Beurteilung von Unterschieden in der Wahlkreisgröße zugrunde gelegten Maßstäbe, die erheblich strenger ausfallen müssten, wenn es sich dem Grundcharakter nach um ein Mehrheitswahlsystem handelte.

Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10.04.1997 lässt sich nichts anderes entnehmen. Die die Entscheidung tragenden vier Richter haben den Verhältnisausgleich, soweit dieser nicht durchführbar ist, nicht den Regeln der Erfolgswertgleichheit entzogen, sondern dem Umstand, dass das vom Gesetzgeber geschaffene Wahlsystem darauf angelegt ist, in diesem Fall die Ergebnisse der vorgeschalteten Personenwahl ohne Wiederherstellung des Proporzes zu erhalten, eine die Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen rechtfertigende Wirkung beigemessen.

Die Zuteilung von Überhangmandaten ohne Ausgleich oder Verrechnung behandelt Wählerstimmen im Sitzzuteilungsverfahren ungleich und greift in die Chancengleichheit der Parteien ein. Diese Differenzierung schlägt sich in der Zusammensetzung des Parlaments nieder.

Mit dem Anfall von Überhangmandaten wird der Erfolgswert der abgegebenen Stimmen differenziert. Aufgrund des durch die Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Listenmandate einer Partei herbeigeführten Verhältnisausgleichs kann grundsätzlich jeder Wähler nur einmal – mit seiner Zweitstimme – Einfluss auf die proportionale Zusammensetzung des Parlaments nehmen. Die Erststimme bleibt demgegenüber ohne Auswirkung auf die Verteilung der Mandate auf die politischen Parteien. Fällt jedoch ein Überhang an, so tragen Wähler mit ihrer Erststimme zum Gewinn von Wahlkreismandaten bei, die nicht mehr mit Listenmandaten verrechnet werden können und die deshalb den auf der Grundlage des Zweitstimmenergebnisses ermittelten Proporz verändern. Damit gewinnt neben der Zweitstimme auch die Erststimme Einfluss auf die politische Zusammensetzung des Bundestages. Da diese Wirkung nur bei denjenigen Wählern eintritt, die ihre Erststimme einem Wahlkreisbewerber gegeben haben, dessen Partei in dem betreffenden Land einen Überhang erzielt, ist die Erfolgswertgleichheit beeinträchtigt. Zwar hat jeder Wähler gleichermaßen die Chance, zur Gruppe der Wähler zu gehören, deren Stimmen stärker als die anderer Wähler Einfluss auf die politische Zusammensetzung des Parlaments nehmen. Jedoch ist – schon ex ante betrachtet – gerade nicht gewährleistet, dass alle Wähler durch ihre Stimmabgabe gleichen Einfluss auf die Sitzverteilung nehmen können.

Auch die Chancengleichheit der politischen Parteien wird durch den Anfall von Überhangmandaten beeinträchtigt. Sie ist nur gewahrt, wenn jede Partei im Rahmen der mit einem Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl unausweichlich verbundenen Rundungsabweichungen annähernd dieselbe Stimmenzahl benötigt, um ein Mandat zu erringen. Bei einer Partei, die einen Überhang erzielt, entfallen jedoch auf jeden ihrer Sitze weniger Zweitstimmen als bei einer Partei, der dies nicht gelingt.

Die Differenzierung bei der Berücksichtigung von Wählerstimmen schlägt sich in der Zusammensetzung des Parlaments nieder, weil ein Ausgleich oder eine Verrechnung der überhängenden Mandate gesetzlich nicht vorgesehen ist. Nach § 6 Abs. 5 Satz 1 BWG verbleiben die in den Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei auch dann, wenn sie die Zahl der ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze übersteigt. Das Gesetz bestimmt für diesen Fall ausdrücklich, dass sich die Gesamtzahl der Parlamentssitze um den Unterschiedsbetrag erhöht, ohne dass der Proporz wiederhergestellt wird (§ 6 Abs. 5 Satz 2 BWG).

Die durch die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten bewirkte ungleiche Gewichtung der Wählerstimmen ist durch die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl, dem Wähler im Rahmen einer Verhältniswahl die Wahl von Persönlichkeiten zu ermöglichen, grundsätzlich gerechtfertigt. Der insoweit bestehende Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wird allerdings durch den Grundcharakter der Bundestagswahl als einer Verhältniswahl begrenzt. Die verfassungsrechtliche Grenze für die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten ist überschritten, wenn Überhangmandate im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke zu erwarten sind.

Die mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen ist nicht durch Gründe gerechtfertigt, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Gleichheit der Wahl sind. Es genügt nicht, dass die Gefahr eines Anfallens von Überhangmandaten dem vom Gesetzgeber gewählten Wahlsystem immanent ist. Der Gesichtspunkt des föderalen Proporzes oder die mögliche mehrheitssichernde Wirkung von Überhangmandaten kommen als Rechtfertigungsgründe ebenfalls nicht in Betracht. Der Anfall ausgleichsloser Überhangmandate kann indes in begrenztem Umfang durch das besondere Anliegen gerechtfertigt werden, die Verhältniswahl mit den Vorteilen einer Personenwahl zu verbinden.

Der Umstand, dass das Anfallen solcher zusätzlicher Sitze dem vom Gesetzgeber gewählten System einer personalisierten Verhältniswahl immanent ist, genügt für sich genommen nicht, die durch Überhangmandate bewirkten Differenzierungen zu legitimieren. Dass es der Gesetzgeber für unausweichlich erachtet, in bestimmten Konstellationen des von ihm vorgesehenen Sitzzuteilungsverfahrens die Stimmen einer Gruppe von Wählern anders zu behandeln als die Stimmen anderer Wähler, macht eine Rechtfertigung dieser Differenzierung vor der Wahlrechtsgleichheit nicht entbehrlich. Lässt sich eine Ungleichbehandlung nicht durch besondere, sachlich legitimierte Gründe rechtfertigen, so ist die Entscheidung für dieses System korrekturbedürftig.

Das Erfordernis eines föderalen Proporzes zwischen den Landeslisten einer Partei untereinander rechtfertigt die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten nicht. Der Gesetzgeber darf zwar bei der Gestaltung des Wahlverfahrens der bundesstaatlichen Gliederung Rechnung tragen und hat dies in gewissem Umfang auch getan. Jedoch sind Überhangmandate nicht geeignet, das Gewicht der Landeslisten einer Partei zueinander zu sichern, sondern können im Gegenteil Störungen des föderalen Proporzes bewirken. Denn werden Überhangmandate ohne Ausgleich gewährt, erlangt jede hiervon begünstigte Landesliste eine Überrepräsentation gegenüber anderen Landeslisten.

Die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass sich diese mehrheitssichernd auswirken können. Das Ziel von Wahlen, eine funktionsfähige Volksvertretung hervorzubringen, ist zwar ein verfassungslegitimer Grund, der Differenzierungen im Erfolgswert der Wählerstimmen gestattet, soweit dies zur Herstellung oder Sicherung einer stabilen Mehrheit unbedingt erforderlich ist. Die Zuteilung von Überhangmandaten ist indes zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet. Überhangmandate können zwar im Einzelfall eine Parlamentsmehrheit absichern, wenn auf Seiten der Mehrheitsfraktion((en)) ein Überhang anfällt, der den – unter Umständen knappen – Vorsprung an Parlamentssitzen vergrößert. In gleicher Weise kann jedoch auch die umgekehrte Situation eintreten, dass eine oder mehrere Parteien ihre – unter Umständen knappe – Mehrheit an Parlamentssitzen allein dadurch erlangen, dass sie Überhangmandate gewinnen. Es besteht mithin kein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen dem Anfallen von Überhangmandaten und der Sicherung einer stabilen Parlamentsmehrheit.

Die mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen kann jedoch in begrenztem Umfang durch das besondere Anliegen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gerechtfertigt werden.

Die Zielsetzung der sogenannten personalisierten Verhältniswahl, dem Wähler die Möglichkeit zu geben, auch im Rahmen der Verhältniswahl Persönlichkeiten zu wählen, ist von der Verfassung gedeckt. Auf diese Weise möchte der Gesetzgeber die Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten, die das Volk repräsentieren, stärken und zugleich in gewissem Umfang der dominierenden Stellung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) ein Korrektiv im Sinne der Unabhängigkeit der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) entgegensetzen. Durch die Wahl der Wahlkreiskandidaten soll zumindest die Hälfte der Abgeordneten eine engere persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis haben. Dieses Ziel kann nur verwirklicht werden, wenn der erfolgreiche Kandidat sein Wahlkreismandat auch dann erhält, wenn das nach dem Proporz ermittelte Sitzkontingent der Landesliste seiner Partei zur Verrechnung nicht ausreicht.

Dieses Anliegen ist hinreichend gewichtig, um die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten in begrenztem Umfang zu rechtfertigen.

Der Gesetzgeber hat sich für ein Wahlsystem entschieden, das sowohl dem Anliegen einer Personenwahl als auch dem Ziel der Verhältniswahl, alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis im Parlament abzubilden, Rechnung tragen will. Beide von der Verfassung legitimierten Ziele lassen sich innerhalb dieses Wahlsystems nicht in voller Reinheit verwirklichen. So trifft es zwar zu, dass die durch den Anfall von Überhangmandaten bewirkte Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen mit einer personalisierten Verhältniswahl nicht zwangsläufig verbunden ist, weil der als Ergebnis des unvollständig durchgeführten Verhältnisausgleichs gestörte Proporz etwa durch Zuteilung von Ausgleichsmandaten wiederhergestellt werden könnte. Allerdings erforderte eine vollständige Verwirklichung des Ziels der Verhältniswahl eine im Einzelnen nicht vorhersehbare Erhöhung der Sitzzahl des Bundestages, wodurch – abgesehen von damit verbundenen Praktikabilitätsproblemen – dessen Zusammensetzung das Ziel, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zur Hälfte personenbezogen zu legitimieren, nicht verwirklichen würde und Beeinträchtigungen des föderalen Proporzes zu erwarten wären.

Das Anliegen der Personenwahl und das mit der Verhältniswahl verfolgte Ziel weitgehender Proportionalität stehen mithin in einem Spannungsverhältnis, das sich nur durch einen vom Gesetzgeber vorzunehmenden Ausgleich beider Prinzipien auflösen lässt. Im Rahmen des ihm insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber das Anliegen einer proportionalen Verteilung der Gesamtzahl der Sitze grundsätzlich zurückstellen und Überhangmandate ohne Wiederherstellung des Proporzes zulassen.

Das Ausmaß der mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundenen Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen muss sich jedoch innerhalb des gesetzgeberischen Konzepts halten. Die Zuteilung zusätzlicher Bundestagssitze außerhalb des Proporzes darf nicht dazu führen, dass der Grundcharakter der Wahl als einer am Ergebnis der für die Parteien abgegebenen Stimmen orientierten Verhältniswahl aufgehoben wird. Es ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers, die Zahl hinnehmbarer Überhangmandate festzulegen und zu regeln, wie mit den die gesetzliche Grenze überschreitenden Überhangmandaten zu verfahren ist, sowie, sollte eine derartige Regelung nicht gefunden werden, Alternativen zum geltenden Wahlsystem ins Auge zu fassen.

Die gesetzliche Vorgabe, wonach der Verhältnisausgleich nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BWG den Regelfall darstellt, darf durch die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Andernfalls droht nicht nur eine Verletzung der Integrationsfunktion der Wahl, weil die Gefahr besteht, dass die Wähler das Vertrauen in den Wert der für die Zusammensetzung des Parlaments entscheidenden Zweitstimme und damit letztlich in die demokratische Integrität des Wahlsystems verlieren. Auch die Maßgabe des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWG, wonach Abweichungen der Größe der Wahlkreise von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl bis zu 25 % zulässig sind, ist nur gerechtfertigt, wenn ausgleichslose Überhangmandate nur in einem begrenzten Umfang zugeteilt werden. Ansonsten könnten die Abgeordneten, die nach den Regeln der Mehrheitswahl gewählt werden, obwohl deren Gleichheitsbedingungen wegen der erheblichen Größenunterschiede der Wahlkreise nicht gegeben sind, im Deutschen Bundestag entscheidenden Einfluss gewinnen.

Da Überhangmandate die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien berühren, ist der Gesetzgeber insoweit auch verpflichtet zu überprüfen, ob die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Regelung durch die Änderung ihrer tatsächlichen oder normativen Grundlagen in Frage gestellt wird, und gegebenenfalls das Wahlrecht zu ändern.

Wann der Gesetzgeber aufgrund einer Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Umstände von Verfassungs wegen zu einer Neuregelung der Überhangmandate verpflichtet ist, hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 10.04.1997 ohne Festlegung eines Zahlenwertes umschrieben und lediglich als einen möglichen Orientierungswert das FünfProzentQuorum genannt. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, den Wahlen zu den kommenden Bundestagen eine verlässliche rechtliche Grundlage zu geben und diese nicht dem Risiko einer Auflösung im Wahlprüfungsverfahren wegen Fehlens erforderlicher Regelungen auszusetzen, hält das Bundesverfassungsgericht es für geboten, die vorliegenden gesetzlichen Wertungen in einem handhabbaren Maßstab zusammenzuführen, an den der Gesetzgeber anknüpfen kann. Die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien sind bei einem Anfall ausgleichsloser Überhangmandate im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke verletzt.

Überhangmandate sind nur in eng begrenztem Umfang mit dem Charakter der Wahl als Verhältniswahl vereinbar. Fallen sie regelmäßig in größerer Zahl an, widerspricht dies der Grundentscheidung des Gesetzgebers. Wann dies der Fall ist, lässt sich – entgegen der Ansicht der die Entscheidung vom 10.04.1997 tragenden Richter – nicht allein in Orientierung an dem FünfProzentQuorum (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWG) bestimmen. Dieses findet seine Rechtfertigung in der Annahme, der Einzug sogenannter Splitterparteien in das Parlament beeinträchtige dessen Funktionsfähigkeit. Dieser Aspekt steht mit der hier zu beantwortenden Frage der Wahrung der Wahlrechts- und Chancengleichheit in keinem Zusammenhang. Indes greift der Deutsche Bundestag bei der Bildung der Fraktionen auf ein entsprechendes Quorum zurück, indem er den Fraktionsstatus grundsätzlich nur Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zuspricht (vgl. § 10 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages). Die Fraktionen sind maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung und nehmen im parlamentarischen Raum eine Vielzahl von Aufgaben wahr. Erreichte die Zahl der Überhangmandate Fraktionsstärke, käme ihnen danach ein Gewicht zu, das einer eigenständigen politischen Kraft im Parlament entspräche.

Der Gesetzgeber hat mit dem Neunzehnten Änderungsgesetz seinen Willen bekräftigt, den Einfluss der Erststimme auf die Verteilung der Listenmandate einzudämmen, indem er den Fall der „Berliner Zweitstimmen“ in dem Sinne geregelt hat, dass Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber abgegeben haben, der von einer Partei vorgeschlagen ist, die an der FünfProzentHürde scheitert, bei der Verteilung der Listenmandate unberücksichtigt bleiben (§ 6 Abs. 1 Satz 4 BWG). Zugleich hat er mit der Verteilungsregel für die Zusatzmandate gemäß § 6 Abs. 2a BWG, derzufolge diese in erster Linie Landeslisten, auf die Überhangmandate entfallen, zuzuordnen sind, unterstrichen, dass die Zahl der proporzwidrigen Überhangmandate zu minimieren ist.

Vor diesem Hintergrund sieht das Bundesverfassungsgericht einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Anliegen möglichst proportionaler Abbildung des Zweitstimmenergebnisses im Bundestag und dem mit der Personenwahl verbundenen Belang uneingeschränkten Erhalts von Wahlkreismandaten dann nicht mehr für gewahrt an, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet. Diese Größenordnung entspricht der vom Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 10.04.1997 gebilligten Quote von 16 Überhangmandaten bei einer regulären Abgeordnetenzahl von 656, wobei das Bundesverfassungsgericht seinerzeit davon ausgegangen ist, dass ein weiterer erheblicher Anstieg der Überhangmandate nicht absehbar sei.

Das Bundesverfassungsgericht ist sich bewusst, dass die Zahl von 15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden kann. Das Bundeswahlgesetz verwirklicht kein Wahlsystem in reiner Gestalt, dessen Lücken in Verfolgung des das System kennzeichnenden Grundgedankens ausgefüllt werden könnten, sondern nimmt verschiedene Anliegen in sich auf. Zwar obliegt der Ausgleich dieser Anliegen in erster Linie der politischen Willensbildung im Gesetzgebungsverfahren, es ist jedoch im speziellen Zusammenhang Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, gleichheitsrechtliche Anforderungen an das Sitzzuteilungssystem so zu konkretisieren, dass der Gesetzgeber das Wahlrecht auf verlässlicher verfassungsrechtlicher Grundlage gestalten kann und infolgedessen das Risiko einer Bundestagsauflösung im Wahlprüfungsverfahren wegen unzureichender Normierung minimiert wird.

Seit das Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.04.1997 haben sich Verhältnisse eingestellt, unter denen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass Überhangmandate regelmäßig in größerer Zahl anfallen, so dass das Wahlrecht zur Wahrung der Wahlrechtsgleichheit um Vorkehrungen gegen ein den Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl verfälschendes Überhandnehmen ausgleichsloser Überhangmandate ergänzt werden muss. Die bei den kommenden Wahlen zum Deutschen Bundestag voraussichtlich zu erwartende Zahl an Überhangmandaten liegt deutlich oberhalb der zulässigen Höchstgrenze von etwa 15 Sitzen. Daraus folgt nunmehr eine Handlungspflicht des Gesetzgebers.

Wenngleich die Ursachen für die Entstehung von Überhangmandaten in ihrer konkreten Wirkung schwer prognostizierbar sind, ist unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklungen bei den Überhangmandatensowie der diese begünstigenden Faktoren zu erwarten, dass die Zahl der Überhangmandate den hinnehmbaren Umfang auf absehbare Zeit deutlich übersteigen wird.

Zusammengerechnet entstanden von der ersten bis zur elften Wahlperiode lediglich 17 Überhangmandate. Seit der Wiedervereinigung hat die Zahl der Überhangmandate deutlich zugenommen und zuletzt ein erhebliches Ausmaß erreicht. So fielen bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Jahre 1990 bereits sechs Überhangmandate an, bei der Bundestagswahl im Jahre 1994 betrug ihre Zahl 16. Dieser Umfang wurde zwar bei den Wahlen der Jahre 1998 und 2002 mit 13 beziehungsweise fünf Überhangmandaten unterschritten, im Jahre 2005 jedoch wieder erreicht. Bei der Bundestagswahl im Jahre 2009 fiel die bislang höchste Zahl von 24 Überhangmandaten an.

Eine Umkehr dieser insgesamt steigenden Tendenz ist in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten. Der nachhaltige Anstieg der Zahl der Überhangmandate korrespondiert mit Veränderungen bei den ihre Entstehung begünstigenden Faktoren.

Die Ursachen für die Entstehung von Überhangmandaten sind vielschichtig. So entstehen vermehrt Überhangmandate, wenn sich in einem Land bevölkerungsschwache Wahlkreise häufen, sowie bei einem überdurchschnittlich hohen Anteil nicht Wahlberechtigter in den Wahlkreisen, einer unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung oder einer überdurchschnittlichen Zahl ungültiger Zweitstimmen in einem Land. Davon abgesehen fallen Überhangmandate gehäuft an, wenn die Zahl der von einer Partei errungenen Direktmandate nicht deren Zweitstimmenergebnis entspricht. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Partei mit einem schwachen Zweitstimmenergebnis ihre Direktmandate jeweils mit nur knappen (relativen) Wahlkreismehrheiten erringt. Begünstigt werden solche Wahlergebnisse unter anderem durch eine größere Anzahl von Parteien, denen es gelingt, die Sperrklausel zu überwinden, weil dann der auf die einzelne Partei entfallende Zweitstimmenanteil statistisch betrachtet abnimmt. Auch wenn Wähler häufig von der Möglichkeit des Stimmensplittings Gebrauch machen, können Erst- und Zweistimmenergebnis in einer Überhangmandate begünstigenden Weise auseinanderfallen.

Mit Blick auf diese Faktoren ist von der Gefahr auszugehen, dass sich die Zahl der Überhangmandate absehbar über der zulässigen Höchstgrenze bewegen wird. Insbesondere sind seit der Wahl im Jahre 1990 fünf statt zuvor vier Parteien im Deutschen Bundestag vertreten. Dies hat Einbußen beim Zweitstimmenergebnis der Parteien zur Folge. Zugleich gelingt es den Parteien CDU, CSU und SPD, bei denen seit 1990 sämtliche Überhangmandate angefallen sind, nach wie vor, die ganz überwiegende Zahl der Wahlkreismandate zu erringen. Für eine Umkehr dieses Trends zurück zu einer geringeren Zahl an Parteien sind keine Anhaltspunkte erkennbar. Vielmehr lassen aktuelle Meinungsumfragen eine gegenteilige Entwicklung erwarten. Auch im Schrifttum wird davon ausgegangen, dass sich die Zahl der Überhangmandate künftig zumindest in einem den Ergebnissen der letzten Wahlen vergleichbaren Rahmen bewegen wird.

Der Gesetzgeber hat im Hinblick auf die genannten Umstände von Verfassungs wegen Vorkehrungen zur Wahrung der Wahlrechts- und der Chancengleichheit in Bezug auf den Anfall von Überhangmandaten zu treffen. Zwar ist er nicht gehalten, tatsächliche Gegebenheiten bereits dann zu berücksichtigen, wenn diese ihrer Natur oder ihrem Umfang nach nur unerheblich oder von vorübergehender Dauer sind; vielmehr darf er darauf abstellen, ob sich eine beobachtete Entwicklung in der Tendenz verfestigt. Anders als in der besonderen Situation nach der ersten gesamtdeutschen Wahl, die es dem Gesetzgeber erlaubte, abzuwarten und zu beobachten, wie sich die Verhältnisse weiter entwickeln würden, ist zwischenzeitlich deutlich erkennbar geworden, dass sich die politischen Verhältnisse dauerhaft verändert haben und aufgrund dessen regelmäßig mit dem Anfall von Überhangmandaten in größerer Zahl zu rechnen ist. Der Gesetzgeber brauchte sich zwar im Hinblick auf die vom Bundesverfassungsgericht genannte Orientierung an der FünfProzentSperrklausel auch angesichts der Ergebnisse der Bundestagswahl im Jahre 2009 nicht zu einem Tätigwerden gezwungen zu sehen. Ebensowenig mussten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht den Gesetzgeber zu einer Neuregelung veranlassen. Dies ändert aber nichts an seiner Handlungspflicht, nachdem die verfassungsrechtlichen Gleichheitsanforderungen in dieser Entscheidung konkretisiert worden sind.

Die Mehrheitssicherungsklausel[↑]

Die weiteren von den Antragstellern im Normenkontrollverfahren und den Beschwerdeführern angegriffenen Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere führen weder § 6 Abs. 3 BWG noch § 6 Abs. 4 Satz 4 BWG den Effekt des negativen Stimmgewichts herbei.

Die Mehrheitssicherungsklausel des § 6 Abs. 3 BWG lässt zwanglos eine Auslegung zu, die einen Wirkungszusammenhang zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg, bei dem die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf sie entfallenden Zweitstimmenzahl korreliert, vermeidet.

Die Beschwerdeführer sind der Auffassung, dass § 6 Abs. 3 Satz 1 BWG eine uneinheitliche Terminologie auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite aufweise. Während der Tatbestand („nicht mehr als die Hälfte der zu vergebenden Sitze“) Bruchzahlen genügen lasse, rechne die Erfüllungsbedingung („ein Sitz mehr als die Hälfte der zu vergebenden Sitze“) in ganzen Zahlen. Diese Diskrepanz könne dazu führen, dass beispielsweise eine Partei, wenn sie von vornherein 301 von 601 Sitzen erhalte und deshalb nicht von § 6 Abs. 3 Satz 1 BWG profitiere, schlechter dastehe, als wenn sie – aufgrund weniger Zweitstimmen – zunächst nur 300 von 600 Sitzen, durch wortlautgetreue Anwendung der Mehrheitssicherungsklausel jedoch 302 von 602 Sitzen erhielte. Hierbei handele es sich um einen Effekt des negativen Stimmgewichts.

Mit diesem Einwand dringen die Beschwerdeführer nicht durch. Die Mehrheitssicherungsklausel lässt ausgehend von ihrem Wortlaut zwanglos eine Auslegung zu, die den beschriebenen Wirkungszusammenhang zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg vermeidet.

§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWG knüpft sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenseite an die „Hälfte der im Wahlgebiet zu vergebenden Sitze“ an. Für die Auslösung der Rechtsfolge wird verlangt, dass eine Partei trotz eines Zweitstimmenanteils von bundesweit mehr als 50 % nicht mehr als die Hälfte der bundesweit zu vergebenden Sitze erhalten hat. Da Sitze nur ganzzahlig, nicht als Bruchteile vergeben werden (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 3 und 4 BWG), kann sich dieses Erfordernis nur auf ganze Sitze beziehen. Ist der Tatbestand erfüllt, ordnet die Norm als Rechtsfolge die Zuteilung weiterer Sitze an die Landeslisten der Partei an, bis auf die Partei mehr als die Hälfte der bundesweit zu vergebenden Sitze entfällt. Auch insoweit kann es sich nur um ganze Sitze handeln.

Angesichts dessen kann § 6 Abs. 3 Satz 1 BWG ohne Weiteres in dem Sinne ausgelegt werden, dass der Begriff „Hälfte“ auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite gleichermaßen auf die Gesamtsitzzahl vor ihrer Erhöhung nach § 6 Abs. 3 Satz 2 BWG bezogen wird. Die Rechtsfolgenbedingung ist dann bereits nach einmaliger Zuteilung eines zusätzlichen Sitzes erfüllt, weshalb sich der von den Beschwerdeführern behauptete Effekt des negativen Stimmgewichts nicht einstellen kann. Ein solches Normverständnis entspricht dem in § 6 BWG auch sonst anzutreffenden Regelungsmodell, wonach Korrekturberechnungen grundsätzlich nur einmal vorzunehmen sind.

Unbesetzt bleibende Mandate wegen zu kurzer Landeslisten[↑]

Auch § 6 Abs. 4 Satz 4 BWG führt – ungeachtet der Unvereinbarkeit des § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG mit dem Grundgesetz – für sich genommen nicht zu einem Effekt des negativen Stimmgewichts.

Die Regelung sieht für den Fall, dass Landeslisten nach ihrem Zweitstimmenergebnis mehr Sitze zustehen als Bewerber benannt sind, vor, dass diese Sitze unbesetzt bleiben. Wie sich aus § 1 Abs. 1 Satz 1 BWG ergibt, verringert sich in einem solchen Fall die Gesamtzahl der Sitze um die Zahl der unbesetzt bleibenden Sitze; eine sonstige Rechtsfolge ist hieran nicht geknüpft. Was den von den Beschwerdeführern behaupteten Effekt des negativen Stimmgewichts angeht, bedeutet dies: Weist eine Landesliste einer Partei eine zu geringe Bewerberzahl auf, um die auf sie entfallenden Sitze zu bedienen, so führt ein Stimmenzuwachs für diese Landesliste zwar nicht zu mehr Mandaten, weil es keine Bewerber gibt, die für die Landesliste zusätzlich in den Deutschen Bundestag einziehen könnten. Allerdings ist hiermit nicht zugleich ein Sitzverlust einer anderen Landesliste verbunden. Die Ländersitzkontingente verändern sich nicht allein deshalb, weil auf eine Landesliste entfallende Sitze unbesetzt bleiben. Ein Wirkungszusammenhang zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg, bei dem die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf sie entfallenden Zweitstimmenzahl korreliert, kann mithin nicht eintreten.

Die Folgen der Verfassungswidrigkeit[↑]

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungswidrigkeit des in § 6 BWG geregelten Sitzzuteilungsverfahrens festgestellt. Die Unvereinbarkeit der Regelungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2a BWG mit dem Grundgesetz führt gemäß § 78 Satz 1, § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG zur Feststellung ihrer Nichtigkeit. In Bezug auf § 6 Abs. 5 BWG war lediglich die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz auszusprechen, weil die Möglichkeit besteht, dass der Gesetzgeber durch ergänzende Bestimmungen die Verfassungskonformität der Vorschrift herstellt; solange dies nicht geschehen ist, ist sie unanwendbar.

In Folge dieser Feststellungen fehlt es an einer wirksamen Regelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Die bis zum Inkrafttreten des Neunzehnten Änderungsgesetzes geltenden und durch diese ersetzten oder modifizierten Bestimmungen leben nicht wieder auf. Ein solches Wiederaufleben von Vorschriften aufgrund Nichtigkeit der sie ändernden Bestimmungen scheidet hier bereits deshalb aus, weil das Bundesverfassungsgericht das zuvor gesetzlich vorgesehene Sitzzuteilungsverfahren in wesentlichen Teilen ebenfalls für verfassungswidrig und nur für eine – zwischenzeitlich verstrichene Übergangsfrist – weiter anwendbar erklärt hat. Zudem ist die die Überhangmandate betreffende Regelung des § 6 Abs. 5 BWG für das Sitzzuteilungsverfahren von zentraler Bedeutung, so dass wegen ihrer Unanwendbarkeit die früheren Bestimmungen das Wahlrecht in einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Weise regeln würden.

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 25. Juli 2012 – 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11 und 2 BvE 9/11


Viewing all articles
Browse latest Browse all 2